2025
Verantwortlich für diese Seite: Andreas Fischer
Bereitgestellt: 26.05.2019
Musik: Marta Casulleras
Kollekte: Inlandprojekt Hospiz Brugg
Im Gottesdienst nehme ich Bezug auf Muhedins Bilder und Biografie – sowie auf eine symbolgeladene Passage im Johannesevangelium, in der die Rede ist von der Traurigkeit einer Schwangeren, die sich in Freude verwandelt, wenn das Kind zur Welt gekommen ist (Joh. 16, 16-22).
In der anschliessenden Finissage (ca. 19.30 Uhr) wird sich der in Basel wohnhafte Künstler Christian Selig (stöckerselig.ch; weitere Informationen siehe unten) zu Muhidins Werken äussern. Musikalische Begleitung: Marta Casulleras, Klavier. Fingerfood-Apero.
Herzliche Einladung!
Andreas Fischer
Maler des Traurig-Seins
Jemil Kemal Muhidin ist Äthiopier, 22 Jahre alt, Künstler und Bewohner des Asylzentrums Kaiseraugst.
Nein, Muhidin möchte keinen Kuchen, keinen Kaffee, nicht einmal ein Glas Wasser. Er ist gläubiger Moslem, und es ist Ramadan, da wird erst nach Sonnenuntergang gegessen und getrunken. Jeden Abend fährt Muhidin nach Basel in die Moschee. Dort hilft er kochen, um Mitternacht kehrt er zurück ins Asylzentrum, in den frühen Morgenstunden isst und trinkt er noch einmal, bevor das Fasten wieder beginnt.
Den Ramadan einzuhalten ist für ihn selbstverständlich, ebenso wie die fünf täglichen Gebete. Kürzlich habe er im Internet gelesen, wenn du dreimal täglich betest, bringt dich das in einen Zustand von Entspannung und innerer Freiheit. Er als Moslem, fügt Muhidin lächelnd hinzu, bete sogar fünfmal.
In Äthiopien, wo er aufwuchs, leben Christen und Moslems meist friedlich neben- und miteinander. Am Freitag gehen die Moslems in die Moschee, am Sonntagmorgen um sieben Uhr treten die Christen in weissen Kleidern aus ihren Häusern. Bei Festen gibt es für die Angehörigen beider Religionen separates Essen gemäss den jeweiligen Speisegeboten.
Schlimme Reise, schlimmes Haus
Religion ist für Muhidin wichtig. Er ist überzeugt, dass Gott ihm auf der Reise half, dass er ihn vor dem Tod bewahrt hat. „Die Reise“ war, gemäss Muhidins Schilderungen, „sehr schlimm“. Vom Sudan aus durchquerte er, in einem Truck zusammengepfercht mit hundert anderen Flüchtlingen, die Sahara Richtung Libyen. Mitten in der Wüste wurde der Konvoi von Paramilitärs überfallen. Die Gangster nahmen den Flüchtlingen weg, was sie auf sich trugen, Geld, Schmuck, Handys. Sie vergewaltigten die Frauen, als die Männer sich wehrten, drohten sie, sie zu erschiessen. Einem zertrümmerten sie das Knie.
In Libyen kam Muhidin in ein „schlimmes Haus“, wie ein Gefängnis sei es gewesen. Das Wasser schmeckte salzig und bewirkte allergische Reaktionen. Einmal täglich gab es Teigwaren, manchmal mussten die Flüchtlinge mehrere Tage ohne Essen auskommen. Mit den Handys der Schlepper riefen sie ihre Angehörigen an. Die mussten zahlen. Zirka viertausend Franken wurde für seine Reise verlangt, sagt Muhidin. Sein Vater hatte glücklicherweise genug Geld. Andere, deren Angehörige nicht zahlten, wurden eingesperrt, geschlagen.
Über zwei Monate steckte Muhidin in Libyen fest, bis endlich das Wetter die Überfahrt nach Italien zuliess. Am 23. Juni 2016 kam er in Catania an. Über Mailand führte der Weg in die Schweiz. Er habe Glück gehabt, sagt Muhidin, andere habe man am Zoll zurückgewiesen, ihm haben die Zöllner gesagt: „Okay, willkommen!“ Über St. Gallen und Aarau kam er nach Kaiseraugst.
Auf seiner Reise habe er auch Positives erlebt, erzählt Muhidin weiter. Da war, zum Beispiel, jener Mann, der ihm in einer kalten Nacht in der Sahara seine Jacke über die Schultern legte. Da war jener Schlepper, der ihn übers Mittelmeer brachte. Er war freundlich, beruhigte die Leute, entschuldigte sich für das schlechte und knappe Essen. Dabei war es viel besser als jenes in Libyen. Mit einigen Weggefährten, die heute in Deutschland, England und an verschiedenen Orten in der Schweiz verstreut sind, hat Muhidin heute noch Kontakt. Und auch hier in der Schweiz lerne er viele „positive“ Menschen kennen.
sur le pont, DA-SEIN
Weder der Sudan noch Libyen noch die Schweiz seien seine Heimat, doch hier, sagt er, sei es gut für ihn. Muhidin tut, was er kann, um anzukommen. Mithilfe von Youtube-Lehrgängen hat er angefangen, Deutsch zu lernen, hat Kontakt aufgenommen zu „sur le pont“, einer Organisation, die Brücken baut zwischen Migrantinnen und Einheimischen in Basel, mit Sport, Kultur, gemeinsamem Essen. Auch im DA-SEIN macht er mit, einem Projekt der Offenen Kirche Elisabethen, ebenfalls in Basel, wo Geflüchtete fern der Heimat Heimat finden.
Ebenfalls über einen Youtube-Kanal hat Muhidin gelernt, mit Wasserfarbe und Acryl zu malen. Eine künstlerische Ader hatte er von klein auf. Als Kind bastelte er aus Plastik und Holz Helikopter. An Geburtstagen schrieb er Namen und Daten in so schöner Schrift, dass das Geschriebene nachher wie ein Gemälde aufgehängt wurde. Später, als Fünfzehnjähriger, fertigte er mit Bleistift Porträtskizzen von Menschen an, die dann auf Facebook gepostet wurden. Im engen Raum des Asylzentrums kann Muhidin nicht malen. Stattdessen hat er sein Atelier in der Wohnung eines Mitglieds des Vereins „Freiwilligenarbeit Asyl Kaiseraugst“ eingerichtet. Hier sind die Bilder entstanden, die derzeit im lokalen reformierten Kirchgemeindehaus hängen. Die für Muhidin wichtigsten Bilder sind jene, die er „Traurig-Sein“ nennt. Man meint, im Titel einen Nachklang von „DA-SEIN“ zu hören. Traurig-Sein, sagt Muhidin mit geheimnisvollen Worten, beschreibt einen Zustand, in dem du allein bist, melancholisch, nachdenklich. Dieser Zustand, fährt er fort, sei der beste Moment, „da kannst du die Farbe von allem sehen. Du bist entspannt, du siehst, was du tust, was du getan hast. Du siehst alles“.
Andreas Fischer
Zur Finissage mit Worten von Christian Selig (stöckerselig)
Auf Wunsch von Jemil Kemal Muhidin selber wird sich im Rahmen der Finissage der in Basel wohnhafte Künstler Christian Selig (stöckerselig.ch) zu den Bildern äussern. stöckerselig hat kürzlich in einer Kunsthalle orientalische Teppiche aufeinander geschichtet und die folgenden Zeilen hinein geschnitten: „...wenn hier ein Minenfeld wäre und ich in der Ferne das Meer hören könnte...“ Dazu schreiben sie:
„Die Schriftarbeit nimmt uns auf eine mentale Reise mit. Der Ort, an dem wir uns befinden, wird zum unsicheren Territorium. Der Blick ist in die Ferne gerichtet, das Rauschen des Meeres ist hörbar. Dieses ist in der Erinnerung mit einer romantischen Schwärmerei verbunden, doch Zustände verändern sich und das Meer verliert seine Unschuld.“
Christian Selig sagt, es gelte, die Leute aufs Boot zu holen. Mit den „Leuten“ ist nicht nur die kleine Schar der Kulturbeflissenen gemeint, die sich möglicherweise für Muhidins Kunst interessieren. Die Metaphorik des Boots weist darüber hinaus in jenes Meer, das Muhidin überquerte. Das Tausende Toter birgt, das seine Unschuld verloren hat.
Und weiter weist die Metaphorik hinein in jene Welt, in der Muhedin aufgewachsen ist. Seine Sozialisation ist eine uns fremde. Dass er sie verliess, generiert Muhidins individuelle Geschichte. Um diese Geschichte zu verstehen, gilt es, die eigenen Bewertungskriterien – als führe man selbst hinaus auf ein unbekanntes Meer – zu verabschieden. Es gilt, in sich selber einen von überlieferten Kunstkonzepten befreiten Raum zu schaffen. Dieser Raum macht es allererst möglich, die Bilder von Muhidin zu lesen.
Kontakt: Pfr. Andreas Fischer