"Ich bin der Weinstock" - Gottesdienst der Gesamtgemeinde

ichbin (Foto: Andreas Fischer)
Kollekte: Nicaragua Schulprojekt Pfarrer Peter Senn
Weg und Weinstock: Zwei ICH BIN-Worte im Sommer

Die ICH BIN-Worte im Johannesevangelium gehören zu den bedeutendsten Worten der Bibel überhaupt. Mit einfach-wesentlichen Symbolen sagen sie, wer Jesus Christus ist: das Brot, die Tür, das Licht. Und so weiter. Insgesamt sieben solche ICH BIN-Worte sind es. Sieben ist die Zahl der Vollendung.

Für die Sommergottesdienste habe ich einen Mini-Predigtzyklus zu zwei dieser ICH BIN-Worte vorgesehen. Die erste Predigt vom Sonntag, 19. Juli befasst sich mit: "ICH BIN der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh. 14, 6) Sie kann unten nachgelesen werden.

Am kommenden Sonntag, 26. Juli werde ich mich „ICH BIN der Weinstock – ihr seid die Reben“ zu:

„ICH BIN der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (15, 5)

Bild- und Sachhälfte bei diesem Vergleich sind nicht deckungsgleich. Anders als Pflanzen können wir Menschenkinder nämlich entscheiden. Wir sind frei.

In einem Kommentar heisst es: „Wie sollten die Reben, wenn sie es denn könnten, so töricht sein, ihren Weinstock zu verlassen, sodass sie ihrer Bestimmung nicht mehr zu entsprechen vermögen, nämlich Frucht zu bringen?“

Ob das auch für mich gilt?

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Herzliche Einladung zum Gottesdienst! Und zu der kleinen Reihe während der Sommerferien! Sie wird begleitet durch ein » Bibelteilen, in dem wir uns jeweils mittwochs um 14 Uhr per Zoom über die Texte austauschen. Der Prediger erhofft sich davon jeweils Inspiration für seine Kanzelreden :-)

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"ICH BIN der Weg und die Wahrheit und das Leben": Predigt zu Joh. 14, 6

Einleitung:

Eigentlich ist „ich bin“ ja eine Allerweltsformulierung, alltäglich, unauffällig. Den Eindruck hat man zunächst auch an den Stellen, wo „ich bin“ im Johannesevangelium begegnet. Zum Beispiel dort, wo sich Jesus im Garten Getsemani gegenüber den Schächern outet:

„Er sagte zu ihnen: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazaret. Er sagt zu ihnen: ‚Ich bin es‘“. (18, 4f.)

Das scheint zunächst eine einfache Identitätsaussage zu sein. Doch dann, im nächsten Vers, wird man hellhörig:

„Als er nun zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und fielen zu Boden.“

Das ist, gelinde gesagt, eine überraschende Reaktion. So reagieren in der Bibel die Menschen im Anblick des lebendigen Gottes. Als der Prophet Jesaja Zeuge einer Theophanie im Tempel wird, ruft er entsetzt aus:

„Wehe mir, ich bin verloren! … Meine Augen haben Adonai Zebaoth gesehen!“ (Jes. 6, 5)

Stiller fällt die Reaktion des Mose aus, als ihm Gott erscheint im Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt:

„Da verhüllte Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott hin zu blicken.“ (Ex. 3, 6)

Darauf fragt Mose die Gottheit nach ihrem Namen. Die Antwort der Gottheit lautet: „Ich bin, der ich bin“, im hebräischen Urtext: „Ehje ascher ehje“. Man hört die klangliche Nähe zum Namen Gottes: JHWH. Der Name ist eine verkürzte Form der Formel: „ICH BIN DER ICH BIN“.

Wenn Jesus im Johannesevangelium sagt: ICH BIN, dann bringt er damit sein göttliches Wesen zum Ausdruck. Dann erscheint in ihm Gott.

Das ist der Grund, warum die Schächer im Garten Getsemani zurückweichen und zu Boden stürzen: Vor ihnen steht Gott.

Aus dieser göttlichen Dimension heraus kann Jesus auch den paradoxen Satz sprechen: „Ehe Abraham war, BIN ICH“. „Ehe Abraham war – ICH BIN“, lautet der Satz in der ursprünglichen Wortstellung. Da wird deutlich, Jesus Christus ist von der Kategorie der Zeit nicht begrenzt. Er ist gestern, heute und in Ewigkeit.

In dieser göttlichen Autorität spricht Jesus auch das ICH BIN-Wort, mit dem wir uns heute befassen. Es steht im Johannesevangelium, Kap. 14, Vers 6.

Wir hören es und singen anschliessend ohne weitere Ankündigung ein Lied, das das Motiv des Weges aufnimmt: „Vertraut den neuen Wegen“ bei 843, wir singen alle drei Strophen.

Lesung:

Jesus sagt:
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich.

Lied: „Vertraut den neuen Wegen“ (843, 1-3)

Predigt:

Vertreibung aus dem Paradies, Auszug aus Ägypten, Wanderung durch die Wüste, Weg ins Exil, Heimkehr nach Jerusalem usw. – in der Bibel sind die Menschen immer auf dem Weg.

Am Anfang der Geschichte des Volks Israel spricht Gott zu Abraham:

„Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen. 12, 1)

Und auch Jesus, der das geheimnisvolle Wort sprach: „Ehe Abraham war, bin ich“ – auch Jesus lebt im gleichen Geist. Auch er ist zeitlebens auf dem Weg. Schon pränatal, „als ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde“ – schon damals war er, unter dem Herzen Marias unterwegs von Nazareth nach Bethlehem, der Stadt Davids. Kaum war er zur Welt gekommen, flohen seine Eltern mit ihm vor den Schergen des Herodes nach Ägypten. Später, als Wanderprediger, schildert er seinen way of life mit den Worten:

„Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel haben Nester, ich aber habe keinen Ort, wo ich mein Haupt hinlegen kann.“ (Lk. 9, 58)

Schliesslich ging er den Weg nach Golgota. Indessen war der Weg ans Kreuz, wie sich nach seinem Tod zeigte, nicht sein letzter. Posthum erschien er als Auferstandener seinen Jüngerinnen und Jüngern, die berühmteste Ostergeschichte erzählt, wie er zwei seiner Freunde auf dem Weg nach Emmaus begleitete. Und auch als er ihren Blicken entschwand, ging der Weg weiter, immer weiter.

An einer Stelle in der Apostelgeschichte (9, 2) werden die Christinnen und Christen „Menschen des Wegs“ genannt. Sie sind Anhängerinnen und Anhänger dessen, der von sich selber sagte: „ICH BIN der Weg“.

Diese Menschen haben den Weg gleichsam verinnerlicht, „sie haben hier keine bleibende Stadt“, wie es im Hebräerbrief heisst, „sie suchen die zukünftige“. Ihr Vorbild im Glauben ist Abraham, von dem es, wiederum im Hebräerbrief, heisst:

„Im Glauben brach Abraham auf, ohne zu wissen, wohin er kommen würde. Im Glauben wanderte er aus ins Land der Verheissung, ein Land, das ihm fremd war, und wohnte in Zelten.“ (Hebr. 11, 8f.)

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Mensch des Weges zu sein, bedeutet ein Glaubender zu sein. Glauben meint nicht, etwas für wahr zu halten. Sondern, und nun zitiere ich Rudolf Bultmann, den bedeutendsten Neutestamentler des letzten Jahrhunderts:

„Glaube ist:
• Zerbrechung aller menschlichen Massstäbe und Wertungen,
• Preisgabe von Scheinsicherheit und Lebenslüge,
• Bereitschaft, aus dem Unsichtbaren und Unverfügbaren zu leben“ (nach Theologie 422)

Mensch des Weges zu sein, Glaubender zu sein, bedeutet also gerade nicht, dass ich sicher bin, die Orientierung habe, den Weg weiss, über den Glauben verfüge als eine Art Besitz. Es ist genau umgekehrt: Glauben bedeutet, Sicherheiten loszulassen, die Anhaftung an Besitz, Leistung, Karriere, all das, was das Ego ausmacht.

Die Zeit, in der wir leben, dieser Verlust an Selbstverständlichkeiten, diese Verunsicherung und Ungewissheit, diese Unmöglichkeit zu planen, dieses Nicht-Wissen, wie es weitergeht, mit mir selber, mit den Menschen, die mir nahe sind, mit der Gemeinde, aber nicht nur, auch global, menschheitlich, mit unserem Planeten, diese wachsende Ahnung, how fragile we are, wie zerbrechlich das Leben ist --- die Zeit, in der wir leben, ist geeignet, sich in diesem Glauben zu üben.

Glauben bedeutet, im Geist offen und weit und leer zu werden. Was dann geschieht, das deutet sich in den beiden weiteren Worten an, die Jesus ausspricht:

„Ich bin die Wahrheit und das Leben“.

Die grosse jüdische Philosophin Simone Weil (1909-1943) sagte:

Es gibt „Wörter, die in sich die Kraft haben zu erleuchten und zum Guten zu erheben. Das sind jene Wörter, denen eine absolute und für uns unbegreifliche Vollkommenheit entspricht. Die Kraft der Erleuchtung sitzt in diesen Wörtern selbst. Das, was sie ausdrücken, ist unvorstellbar. ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Liebe‘ sind solche Wörter.“

Und eben auch „Wahrheit“ und „Leben“. Es sind Worte, die in eine andere Welt weisen oder umgekehrt aus einer anderen Welt stammen. Aus der Welt Gottes.

„Wahrheit“ und „Leben“ sind Worte aus der Ewigkeit, dem Änedraa, der himmlischen Welt, sie gehören zum Haus des Vaters, in das Jesus zurückkehrt, bald nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte.

Die Situation ist die folgende: Jesus ist zum letzten Mal zusammen mit seinen Jüngern. Er sagt ihnen, dass er weggehen werde. Einer der Jünger fragt ihn, wohin er gehe, und welches der Weg sei.

Darauf gibt Jesus die Antwort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“

Man fragt sich, wie die drei Worte zusammengehören. Man könnte sagen, der Weg führe hin zu Wahrheit und Leben, die also das Ziel seien. Doch Weg und Ziel sind in den Worten Jesu nicht voneinander getrennt (Bultmann 468). Beide sind eins.

Und das bedeutet: Wahrheit und Leben wohnen nicht, jedenfalls nicht nur in einem fernen, unzugänglichen Himmel. Sie sind hier und jetzt im Weg drin anwesend, sie sind zur Erde herabgestiegen im Wort, das Fleisch geworden, in Gott, der Mensch geworden ist, im ICH BIN von Jesus Christus.

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Was meint nun dieser Satz: „Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich“?

Meist wird er im Sinn eines Absolutheitsanspruchs des Christentums verstanden. In einem Kommentar heisst es:

„Keine anderen Erlöser, Gesandten und Offenbarer wissen den himmlischen Weg und führen zum Vater.“ (Schulz)

Ein anderer Kommentator schildert die z.T. entsetzlichen Konsequenzen:

„Die gnadenlose Behauptung und rigorose Durchsetzung des Absolutheitsanspruchs hat, zum Beispiel, zu Zwangstaufen der spanischen Juden und öffentlichen Verbrennung der Ketzer zur Ehre Gottes geführt.“ (Thyen)

Doch mir scheint, wir sollten dieses „Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich“ anders verstehen – und zwar ausgehend auf der simplen Beobachtung, dass Jesus diese Worte ja nicht in einem Streitgespräch mit anderen Religionen bzw. religiösen Lehrern sagt. Sondern zum innersten Kreis seiner Jünger. Wer, wenn nicht sie glaubt an ihn als den Meister und Messias!

„Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich“ meint nicht Jesus im Gegensatz zu den Pharisäern und Schriftgelehrten, dem Kaiser oder dem berühmten antiken Magier Simon. Auch nicht im Gegensatz zu Mohammed, Buddha, Sai Baba, Amma und wen es sonst noch an Religionsgründern und Gurus geben mag.

„Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich“ nimmt vielmehr Bezug auf das, was Jesus in seinem Leben verwirklicht hat. Nämlich die totale Transparenz, die totale Durchsichtigkeit seines Lebens, seiner Worte und Werke für Gott. (De la Potterie) Jesus ist der Mensch ohne Ego, sein eigenes ICH BIN und das ICH BIN Gottes sind eins geworden.

Daran gilt es zu „glauben“ – in dem Sinn, wie Bultmann den Glauben beschreibt:

„Zerbrechung aller menschlichen Massstäbe und Wertungen, Preisgabe von Scheinsicherheit und Lebenslüge, Bereitschaft, aus dem Unsichtbaren und Unverfügbaren zu leben“ (nach Theologie 422).

Dieses Unsichtbare und Unverfügbare ist nichts anderes als Gott. Für Gott transparent werden, durchsichtig werden wie Jesus, das bedeutet glauben. Wenn ich als „Mensch des Weges“ den WEG tief, immer tiefer verinnerliche, wenn mein ICH BIN dem ICH BIN Jesu näher kommt, immer näher – dann, glaube ich, komme ich zum Vater.

Auf dem Weg dorthin behüte uns der, der Weg, Wahrheit und Leben ist. Amen.

Kontakt: Pfr. Andreas Fischer