2025
Verantwortlich für diese Seite: Andreas Fischer
Bereitgestellt: 11.03.2019
(Frère Roger Schutz, Pfarrer, Gründer und langjähriger Prior von Taizé)
In diesem Geist der Einfachheit feiern wir monatlich einmal Gottesdienst – mit repetitiven Gesängen, Gebeten, Abendmahl und Stille.
Weitere Daten 2019: 3. Mai, 31. Mai, 14. Juni, 19. Juli, 9. August, 20. September, 11. Oktober, 8. November, 20. Dezember
Mit Pfr. Andreas Fischer und Jutta Wurm
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In der Kurzpredigt werde ich noch einmal Bezug nehmen auf das Mirjam-Lied, über das ich kürzlich gepredigt habe:
Singt dem EWIGEN, denn hoch hat er sich erhoben,
Pferd und Reiter hat er ins Meer geschleudert.
In der Predigt, die unten nachgelesen werden kann, ist das Lied selber zu kurz gekommen. Insbesondere zur zweiten Zeile ist kaum etwas gesagt. Das soll nachgeholt werden :-)
Predigt zum Mirjam-Lied (Ex. 15, 20-21)
Einleitung
Stattliche dreissig Verse lang ist das Lied Deboras, einer Richterin in der Frühzeit Israels. Das Lied der Hanna, der Mutter des Propheten Samuel, zieht sich über zehn Verse. Auch das Lied Marias, der Mutter Jesu, umfängt zehn Verse.
Wer nun in der Bibel im 2. Buch Mose, dem Exodus im 15. Kapitel nachschaut, wo das Mirjam-Lied steht, denkt zunächst: Momoll, auch nicht schlecht. Das Gedicht ist achtzehn Verse lang.
Erst bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass es heisst, MOSE habe das Lied gesungen, zusammen mit den Israeliten. Wo aber ist das Mirjam-Lied?
Es steht nach dem Mose-Lied und ist genau zwei Zeilen lang. Das ist nicht einmal ein ganzer Vers, nur zwei Drittel davon.
Doch diese zwei Zeilen haben es in sich. Sie gelten in der Forschung als „formvollendeter kleiner Hymnus“, als ‚Urbild‘ aller alttestamentlichen Lobgesänge. (nach Utzschneider 338)
Diese Wahrnehmung hat zur Vermutung geführt, dass das Mirjam-Lied einer der allerältesten
Texte des Alten Testaments überhaupt sei. Erst Jahrhunderte später sei das Moselied eingefügt worden. Die grosse Wiener Professorin für Altes Testament Irmtraud Fischer hat diese Theorie so kommentiert:
Das lange Moselied muss nach dieser These dann ein Einschub sein, „der durch die spätere Voranstellung die primäre Frauenerfahrung enteignet: Nach dem imposanten Hymnus des Mose geht das kleine Liedchen der Mirjam und der Frauen am Schluss unter.“ (nach 65)
Allemal: der Ruhm des kleinen Lieds in der Literaturgeschichte ist gross. Der Nachhall jener Pauke, auf die Mirjam haute, ist bis heute hörbar.
Wir hören das Mirjamlied mit Einleitung, wie es in Exodus 15 in den Versen 20 und 21 überliefert ist. Anschliessend singen wir das wunderbare Lied der zeitgenössischen österreichischen Theologin, Musikerin, Mutter, Lehrerin, Liedermacherin Claudia Mitscha-Eibl „Mirjam, Mirjam schlug auf die Pauke“. Es steht bei der Nummer 866 – wir singen, im Anschluss an die Lesung, alle drei Strophen.
Lesung: Das Mirjam-Lied (Ex. 15, 20-21)
Da nahm die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, die Trommel in ihre Hand, und alle Frauen zogen hinter ihr hinaus mit Trommeln und in Reigentänzen. 21 Und Mirjam sang ihnen vor:
Singt dem EWIGEN, denn hoch hat er sich erhoben,
Pferd und Reiter hat er ins Meer geschleudert.
Lied: „Im Lande der Knechtschaft“ (866, 1-3)
Predigt
Mose, das wissen auch die Bibel- und Bildungsfernen, ist der grosse Leader Israels. Mirjam hingegen ist mehr oder weniger in Vergessenheit gegangen. Sie ist gleichsam mit den Ägyptern im Meer des Vergessens versunken.
Dank der Forschung vor allem von Theologinnen ist sie von dort wieder aufgetaucht.
Schauen wir uns das Mirjam-Lied genauer an, angefangen bei der Einleitung:
Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons
Früher im Buch Exodus kommt eine ältere Schwester von Mose vor. Sie rettet zwar sein Leben, doch sie bleibt namenlos. Erst hier, in der Einleitung zum Mirjamlied, wird ihr Name genannt. Und mit dem Namen ihr Wesen, ihre Persönlichkeit, ihre Power, ihre Macht und Kraft.
Das also ist Mirjam, die Schwester… wessen? Die Schwester Aarons, heisst es in unserer Lesung. Nicht die Schwester des Mose. Alle drei, Aaron, Mirjam und Mose, sind Geschwister. Dass nun aber Aaron und nicht Mose genannt ist, das hat seinen Grund. Irmtraud Fischer, die schon erwähnte Wiener Professorin für Altes Testament, schreibt dazu:
„Würde nach dem berühmten Bruder nun ‚seine Schwester‘ ihr Lied zum Besten geben, wäre das Mirjamlied ins zweite Glied gerückt.“ Das „Anliegen des Textes“ ist es aber, „das Mirjamlied als Lobpreis einer Führungsgestalt auf gleicher Ebene mit Mose darzustellen“. (nach Fischer 68)
Mirjam tritt also in ihrer Eigenständigkeit in Erscheinung, unabhängig von Mose, der grossen Leaderfigur Israels.
Sie tritt – und das ist die nächste Überraschung – in Erscheinung als Prophetin.
Mirjam ist die allererste Prophetengestalt der Bibel. Es ist Mirjam, die als erste auf die Pauke haut. Sie ist die erste, die die Trommel in die Hand nimmt.
Die Formulierung erinnert an Saul, den ersten König Israels. Saul ist ein disziplinierter Mann, eine Art Zürcher, der unter die Fasnächtler gerät. Von ihm heisst es:
Danach wirst … auf eine Schar von Propheten stossen, die von der Kulthöhe herabkommen, und vor ihnen her Harfe, Pauke, Flöte und Leier, und sie werden sich wie Propheten gebärden. 6 Dann wird der Geist des EWIGEN dich durchdringen, und du wirst dich zusammen mit ihnen wie ein Prophet gebärden, und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden. (1. Sam. 10, 5ff.)
Jahrhunderte vor Saul und Jahrtausende vor den pfingstlich ekstatischen Jüngern Jesu nimmt also Mirjam die Trommel in die Hand und gerät in eine Trance, die auch durch den Morgenstreich, den Chiembäse und die Chaiseraugschter Fasnacht nicht zu toppen ist.
Das ist Mirjam. Die Frauen, alle Frauen und dann auch alle Männer tanzen hinter ihr her. Im Gegensatz zum wortlastigen Moselied spricht das Mirjamlied mit seinen zwei Zeilen alle Sinne an, der ganze Leib vibriert unter den Rhythmen der Trommeln, der Pauken, des Tanzes.
In der Zürcher Übersetzung heisst es, Mirjam singen ihr Lied den Israeliten vor. Doch diese Übersetzung ist nicht sicher. Es könnte auch heissen: Sie singt stellvertretend für sie, und zwar für alle, Frauen und Männer. Nicht Mose, Mirjam ist die Mittlerin, die den Kontakt, die Konnektion herstellt zwischen Gott und Mensch.
Und dann, dann folgt ihr Lied, dieses poetische Bijou:
Singt dem EWIGEN, denn hoch hat er sich erhoben,
Pferd und Reiter hat er ins Meer geschleudert.
Oder in der träferen Schweizerdeutschen Übersetzung:
Singed em Herr – hoch erhaaben isch eer:
Ross und Riiter rüerter i s Meer!
Um die inhaltliche Bedeutung dieser Worte ausloten zu können, muss man dieses Gedicht in einen grösseren Zusammenhang stellen. Das Mirjam-Lied ist ein sogenannter „drum-dance-song“, ein Trommel-Tanz-Lied. Diese Art von Lied wurde in der Antike in der Regel von Frauen gesungen, wenn sie den Männern entgegenliefen, die nach gewonnener Schlacht heimkehrten.
Nach einem Sieg der Israeliten gegen die Philister heisst es im 1. Samuel zum Beispiel:
„Und als sie heimkamen, als David vom Sieg gegen die Philister zurückkehrte, zogen die Frauen singend und im Reigen tanzend aus allen Städten Israels Saul, dem König, entgegen mit Trommeln, mit Freudenrufen und mit Leiern. Und die tanzenden Frauen sangen dazu:
Saul hat Tausende erschlagen und David Zehntausende.“ (1. Sam. 18, 6f.)
Das ist ein traditionelles Trommel-Tanz-Lied. Das Mirjam-Lied ist auch ein drum-dance-song, aber er unterscheidet sich signifikant von der Tradition. In der Forschung heisst es:
Die Israeliten im Exodus sind kein siegreiches Heer, sondern ein Volk, das der Knechtschaft gerade entronnen ist, in die sie nun zurückgezwungen werden sollten. Das Mirjam-Lied „besingt keinen menschlichen Sieger, sondern allein GOTT, der sein Volk durch seine Rettungstat davor bewahrt“, in die Sklaverei zurückzukehren. Die Dienstbarkeit für den Pharao ist aufgehoben in einen Gottesdienst, der … die Freiheit feiert.“ (nach Utzschneider 338)
DAS ist der Lobgesang des Mirjam-Lieds, nicht das Hochjubeln einer militärischen Macht. Es geht um Gott. Und um die von Gott verheissene Freiheit.
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Das Leitwort des ganzen Exodus und mithin der ganzen Bibel heisst: hinausgehen. Eben dieses Wort kommt in der dichtgedrängten Einleitung zum Mirjam-Lied vor: Die Frauen gingen hinaus. Hören wir dazu noch einmal Worte aus der Forschung:
„Es gibt keine ägyptischen Verfolger mehr und es wird sie nicht mehr geben. Musik und Tanz der Frauen ist Ausdruck dafür, dass der Bann der Angst gebrochen und der Weg hinaus frei ist. Es sind die, ja alle Frauen Israels, die dies wahrnehmen, die es auf eine elementare Weise ausdrücken und mitteilen.“ (nach Utzschneider 337)
Martin Luther King, der grosse amerikanische Baptistenpfarrer, Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger sagt in seiner grossen Exodus-Predigten „Der Tod des Bösen“:
„Die Bedeutung der Schilfmeer-Geschichte liegt nicht darin, dass die Ägypter ertranken. Niemand kann sich über den Tod oder die Niederlage eines Menschen freuen. Die Geschichte symbolisiert vielmehr den Tod des Bösen, der unmenschlichen Unterdrückung und der ungerechten Ausbeutung.“ (nach Utzschneider 344)
Für King bedeutete das Böse der Kolonialismus in Afrika und Asien sowie die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten. Das ist ein halbes Jahrhundert her.
Was das Böse heute bedeutet, wage ich in komplizierter gewordenen Zeiten nur zögerlich zu benennen. Doch die Aufzeichnungen im Leitartikel zur diesjährigen Ökumenischen Kampagne sind bedenkenswert:
„Gewinnung von Rohstoffen durch transnationale Unternehmen –
• mineralische wie Coltran für Smartphones,
• metallische wie Gold,
• agrarische wie Soja, Zuckerrohr oder Palmöl,
• energetische wie Erdöl, Kohle oder Wasserkraft
bringen katastrophale Auswirkungen mit sich.
Für Frauen ist die Situation besonders dramatisch: Sie haben kaum Zugang zu Informationen und werden von den Unternehmen, dem Staat und der eigenen Gemeinschaft nicht in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Und dies, obwohl sie von den Folgen am stärksten betroffen sind. Ohne sauberes Wasser, faire Arbeitsbedingungen und Zugang zu Land ist es ihnen kaum möglich, die Familie zu ernähren…“ (nach Kampagnenmagazin 2019)
Es sind, auch und besonders, solche Frauen, für die Mirjam heute ihr Lied anstimmt.
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Am Schluss seiner Exodus-Predigt erzählt Martin Luther-King, wie er einmal zusammen mit seiner Frau, Coretta Scott-King, den südlichsten Punkt Indiens besuchte, das „Land’s End“, dort, wo sich der Indische Ozean, das Arabische Meer und der Golf von Bengalen begegnen.
Die beiden sassen auf einem Felsen und schauten hinaus in die Unendlichkeit des Meers, lauschten den Wellen, die gleichmässig gegen den Stein klatschten. Im Westen versank die Sonne gleich einem grossen Ball im Wasser. Als die Sonne kaum mehr zu sehen war, sagte Coretta zu Martin:
„Schau mal, ist das nicht wunderschön?“
Martin wandte sich um und sah den Vollmond. Die Sonne versank, der Mond tauchte aus dem Ozean auf. „Als die Sonne ganz verschwunden war, legte sich Dunkelheit über die Erde. Zugleich erglänzte das Licht des aufgehenden Mondes.“
Ich erzähle die Geschichte, weil sie am Schluss der Exodus-Predigt steht. Weil es Abend ist und die Nacht aufsteigt. Weil mit Martin und Coretta, mit Sonne und Mond, Helios und Selene, Sol und Luna das Zusammenspiel von Mann und Frau, männlichem und weiblichem Prinzip auf feine Weise angedeutet ist. Und weil ich die Geschichte inklusive ihrer Symbolik schön und stark und tröstlich finde. Martin Luther King sagte, während er das Naturschauspiel betrachtete, die folgenden nachdenklichen Worte:
„Die Welt wäre unerträglich, wenn Gott nur ein Licht hätte. Aber wir können getrost sein: er hat zwei Lichter. Eines, das uns in der Helligkeit des Tages den Weg weist, wenn Hoffnungen erfüllt werden und uns alles wohlgesinnt ist, und ein anderes, das uns durch die Dunkelheit der Nacht leitet.“
Möge uns der Mond, die Luna leuchten auf dem Weg in die Fasten- und Passionszeit. Auf dem Weg in die Nacht.
Kaiseraugst, 9. März 2019
Andreas Fischer
Kontakt: Pfr. Andreas Fischer