Die fundamentale Menschlichkeit des Christus: Texte zum Markusevangelium

Evangelist Markus mit seinem Symbol, dem Löwen (Foto: Frans Vandewalle / flickr / wikiart)
In den kommenden Monaten werde ich über ausgewählte Abschnitte aus dem ältesten der vier Evangelien - jenem des Markus - predigen. In diesem Dossier stelle ich in loser Folge Kanzelreden, Vorträge, Impulse, Notizen zusammen.
Andreas Fischer,
Zur Einführung

Er schreibt wunderbare Rockballaden. Dass er auch eine Einführung ins Markusevangelium geschrieben hat, weiss ich erst seit kurzem. Ein anglikanischer Priester empfahl dem australischen Musiker und Dichter Nick Cave (* 1957), das Markusevangelium zu lesen, mit der Begründung, es sei kurz. Cave befolgte den Rat, und das Evangelium, schreibt er, „eroberte mich im Sturm“:

„Von allen Schriften des Neuen Testaments – angefangen bei den vier Evangelien, über die ‚Geschichte der Apostel‘ und die komplexen, zielbewussten Paulusbriefe bis hin zur erschreckenden, entsetzlichen ‚Offenbarung des Johannes‘ – hat mir allein das Markus-Evangelium wirklich Halt gegeben.“

Eindringlich schildert Cave den Konflikt, in dem Christus im Markusevangelium mit der Welt steht, das unerträgliche Gefühl der Einsamkeit, den Zorn, die Trauer. Die Wunder, die jene Welt vergegenwärtigen, aus der er kommt. Seine Verwandten, seine Freunde, die „durch einen Nebel des Nichtverstehens tappen“. Die Ausrichtung des Evangeliums von allem Anfang an auf das Kreuz:

„Der Taufritus – das Sterben des alten Ich, um neu geboren zu werden – deutet wie so viele Ereignisse in Christi Leben bereits symbolisch auf seinen Tod hin, und sein Tod am Kreuz ist es dann auch, was den stärksten und quälendsten Eindruck hinterlässt.“

Nick Cave hat in diesem Evangelium die Alternative gefunden zum „weichgespülten, allgütigen, blassen“ Christus der Kirche und deren „entkoffeinierte Version des Glaubens“. Der Christus des Markus zeichnet sich aus durch „fundamentale Menschlichkeit“. Nicht ihn zu verehren gilt es, sondern ihm nachzufolgen. Er wird uns „aus der Weltlichkeit unseres Daseins herausheben“. Am Schluss schreibt Cave:

„Christus ist als Befreier gekommen. Christus hat verstanden, dass wir als Mensch für immer von der Schwerkraft zu Boden gezogen werden – unsere Gewöhnlichkeit, unsere Mittelmässigkeit –, und durch sein Beispiel hat er unserer Fantasie die Freiheit gegeben, aufzusteigen und zu fliegen. Kurz: Christus ähnlich zu sein.“

Von der Schwerkraft zu Boden gezogen und mit der Sehnsucht zu fliegen - so, in diesem Spannungsfeld, versuche ich, Markus zu lesen und zu verstehen.

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Daten der nächsten Markus-Predigten:

"» Ich glaube. Hilf meinem Unglauben" (Mk 9, 14-29) am Sonntag, 4. Juni 2023, 19.15 Uhr im Kirchgemeindehaus Kaiseraugst, mit Aufführung der "missa in d" von » Akira Tachikawa.

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Gott taucht auf an den Rändern: Predigt zur Jüngerberufung (1, 16-20)

Einleitung

Das griechische Wort „Euaggelion“ bedeutet „gute Nachricht“, „Frohbotschaft“. In der Antike bezogen sich solche „Euanggelia“, solche Frohbotschaften auf den Cäsar, den römischen Kaiser.

Dieser galt als „theios anthropos“, als göttlicher Mensch. „Seine Macht erstreckt sich auf Menschen, Vieh, Erde und Mehr. Ihm gehorcht die Natur; Wind und Wetter sind ihm untertan. Und er vollbringt Wunder, er heilt Menschen. Er ist der Heiland der Welt und Retter aus der Not.“ (nach ThWNT 721)

Entsprechend war es ein Euangelion, wenn so ein Kaiser zur Welt kam. Oder wenn er das Alter der Mündigkeit erreicht hatte. Oder wenn er den Thron bestieg.

Dass im Christentum nun nicht den Auftritt eines Kaisers in Rom, sondern eines Wanderpredigers in Palästina als Evangelium verkündet wurde, das war in der damaligen Zeit ein Skandalon – so beschreibt es die Bibel selber: als Skandal, als Ungeheuerlichkeit.

Es bedeutet: Gott erscheint nicht in den Machtzentren dieser Welt, nicht in den Palästen, nicht im Kreml und nicht im Pentagon – Gott taucht auf an der Peripherie, an den Rändern der Gesellschaft und auch an den Rändern der Seele, in den unbewussten, halbbewussten Bereichen, die man in der Psychologie „Schatten“ nennt. Von dort her strahlt das göttliche Licht auf.

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Ungefähr im Jahre 70 nach unserer Zeitrechnung, also etwa vierzig Jahre nach Jesu Tod, macht sich der Evangelist Markus daran, Erinnerungen an Jesus von Nazareth aufzuschreiben. Was dabei herauskommt, ist nicht einfach eine Biografie von einem Menschen, der vor langer Zeit an einem fernen Ort lebte. Vielmehr ist es ein Text, der uns über alle zeitlichen und räumlichen Distanzen in sich hineinholt. Es ist, als würden wir Gleichzeitige. Walter Grundmann, einer der bedeutenden Ausleger des Markusevangeliums, schreibt:

„Indem Markus Taten und Worte Jesu … darstellt und dies Evangelium nennt, hebt er den Abstand zwischen der Vergangenheit … und der Gegenwart auf.“ (nach 2f.)

Was da erzählt wird über den Rabbi von Nazareth, der vor zweitausend Jahren in Galiläa lehrte und in Jerusalem starb, das geht mich unmittelbar an. Es ist eine Geschichte für mich, ich bin gemeint.

Das gilt auch für die kurze Story, die wir nun hören, in der Jesus seine ersten Jünger beruft. Es gilt, ich erlaube mir die kleine Pointe, für mich, weil es in der Geschichte um Andreas, den Fischer geht – es gilt für jede und jeden von uns.

Text: Erstes Auftreten in Galiläa, Berufung der ersten Jünger (Mk 1, 16-20)

Als Jesus den See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, auf dem See die Netze auswerfen; sie waren nämlich Fischer. Jesus sagte zu ihnen: "Kommt, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen." Sogleich liessen sie die Netze liegen und folgten ihm.

Als er ein paar Schritte weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes, wie sie im Boot die Netze herrichteten. Sogleich rief er sie. Sie liessen ihren Vater Zebedäus mit den Tagelöhnern im Boot zurück und gingen fort, ihm nach.

Predigt

Gewiss: Es sind historische Persönlichkeiten, die vorkommen in der Geschichte, die wir zuvor gehört haben. Simon Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes, die gemeinsam den inner circle der Jünger Jesu bildeten, sie haben zweifellos gelebt, und auch Jesus von Nazareth ist nicht nur eine mythische Figur, eine Märchengestalt – auch er hat gelebt, die Eckdaten seiner Biografie können als gesichert gelten.

Und trotzdem: Die Geschichte, die wir gehört haben, ist nicht einfach nur historischer Bericht. Man bezeichnet sie in der Forschung als „ideale Szene“, das heisst, sie folgt wie ein Märchen oder eine Sage bestimmten Mustern. Wenn man sich im Alten Testament umschaut, findet man sehr ähnlich strukturierte Erzählungen, etwa jene der Berufung des Elisa durch Elia. Im 1. Buch der Könige heisst es, etwas verkürzt zitiert:

„Und Elia begegnete Elisa, dem Sohn des Schafat... Elia ging an ihm vorüber und warf ihm seinen Mantel über. Da verliess dieser die Rinder, … folgte Elia und diente ihm.“ (Nach 1. Kön 19, 19f.)

Die Strukturmerkmale dieser Erzählung stimmen genau überein mit den beiden Berufungsgeschichten im heutigen Predigttext:

Es findet 1. eine Begegnung statt. Dann folgt 2. die Berufung, sei es mündlich wie bei Jesus oder durch eine Zeichenhandlung wie bei Elia, der Elisa seinen Mantel überwirft. 3. lösen sich die Berufenen von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld, sie verlassen die Fischernetze oder die Rinderherde und folgen 4. dem, der sie berufen hat.

Das sind die Essentials. Sie haben etwas „Holzschnittartiges“ (E. Schweizer). Dadurch lösen sie die Geschichte von ihrem historischen Ursprung ab und machen sie zu Literuatur, in der sich die eigene Seele wiederfindet. Eben: Wir werden Gleichzeitige, wir sind gemeint.

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Und auf noch eine literaturwissenschaftliche Beobachtung sei hingewiesen: Das Markusevangelium ist in sehr einfachem Griechisch geschrieben, nahe an der Umgangssprache. Nichtsdestotrotz: Die Szene, die wir gehört haben, ist sehr sorgfältig komponiert:

Da sind zweimal zwei Brüder. Die einen – Simon und Andreas – haben griechische Namen, die anderen – Jakobus und Johannes – hebräische. Jesus trifft die beiden Brüderpaare bei einer jeweils anderen typischen Tätigkeit des Fischereiberufs, die einen beim Auswerfen, die anderen beim Flicken der Fischernetze. Die eine Tätigkeit wird in der Nacht, die andere am Tag verrichtet. Von den einen heisst es, sie verlassen ihre Fischernetze, die anderen verlassen ihren Vater.

Bei einer derart sorgfältigen Komposition gilt es, hellhörig zu sein. Da ist nichts dem Zufall überlassen. Zum Beispiel nicht die Gegend, in der sich die Szene abspielt: Galiläa.

Galiläa ist, aus der Perspektive Jerusalems, das Niemandsland im Norden. Die Menschen in jener Gegend stehen im Ruf, unfromm zu sein. „Galiläa, Galiläa“, klagt ein Jerusalemer Rabbiner, „du hassest die göttliche Ordnung. Deshalb wird dein Ende das der Räuber sein.“ Der Messias wird in Jerusalem erwartet, nicht in Galiläa.

Doch Jesus Christus tritt in Galiläa auf. Erst am Schluss seiner kurzen Zeit als Wanderprediger geht er nach Jerusalem. Dort wird er, bekanntlich, gekreuzigt.

Und dann, ganz am Ende des Evangeliums erscheint den Frauen beim leeren Grab ein Engel und sagt zu ihnen: „Der Auferstandene geht euch voraus nach Galiläa.“ (Nach Mk. 16, 7)

Galiläa, nicht Jerusalem, der Rand, nicht das Zentrum ist also der Ort, wo der Messias erscheint. Von dort her taucht das Licht auf. Es ist dies die Trift, die Tendenz des ganzen Evangeliums. Es ist, eben, nicht die Frohbotschaft des römischen Kaisers, sondern dieses Rabbi, der gekommen ist, „das Verlorene zu suchen“.

Zu den Verlorenen gehören auch die Fischer. Sie stehen, wie die Hirten, im Ruf, gesetzlose Gesellen zu sein. Im Alten Testament verheissen Fischer nichts Gutes. Immer bringen sie Unheil.

Beim Propheten Jeremia etwa kündigt Gott selber die kommende Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und der Verschleppung der Bewohner ins Exil mit dem Bild „vieler Fischer“ an:

„Sieh, nach vielen Fischern sende ich, Spruch des EWIGEN, und diese werden sie herausfischen.“ (Jer. 16, 16)

--- „herausfischen“ aus dem scheinbar sicheren Aquarium hinter den hohen Mauern der Stadt…

Und nun beruft Jesus also als seine ersten Jünger ausgerechnet vier Fischer, mit der Verheissung, er werde aus ihnen, Menschenfischer machen. Das Wortspiel ist geistreich, und wenn man Andreas Fischer heisst und verheiratet ist mit einer Frau, die Wurm heisst, dann hat man daran seine kleine, persönliche Freude. Allemal: Die Metapher ist problematisch. Sie ist gewalttätig und manipulativ. Die Fische zappeln im Netz oder am Haken, hilflos, wehrlos, ausgeliefert.

Das empfindet auch meine geschätzte Vorgängerin Esther Borer so. In einer Predigt, die sie kürzlich zu eben diesem Text gehalten hat, sagt sie:

„Das klingt doch irgendwie anrüchig!“

Das Korrektiv, das Esther Borer gibt, ist wichtig:

"Was es heisst, Menschen zu fischen, hat Jesus in der Art und Weise, wie er den vier Männern begegnet ist, selber vorgelebt: … Das Gegenüber dazu herausfordern, sich selber zu entscheiden, sich für ein Ziel einzusetzen. Jesus zwingt keinen zu einem übergestülpten Programm oder Weg, den er selber nicht gehen will. Mit ihm unterwegs zu sein meint, sich für die Liebe, die Menschlichkeit einzusetzen.“

In eben diese Richtung der „Menschlichkeit“ geht die Auslegung des Menschenfischer-Worts durch Eduard Schweizer, den grossen Basler Neutestamentler. Er vermutet, dass nicht das geistreiche Wortspiel mit Fischen und Menschenfischen Jesus zu seiner Aussage inspiriert hat, sondern die Absicht, den ursprünglich negativen Sinn ins Positive zu wenden, „vielleicht“, schreibt Schweizer, „sogar in dem Sinn, dass sie die Menschen dem Bösen ‚wegfischen‘ sollen.“ (21)

Sie spüren in den immer wieder neuen Anläufen mein Unbehagen gegenüber dem Menschenfischer-Wort – dieses Unbehagen wird nicht ganz weggehen. Einen letzten Deutungsversuch möchte ich trotzdem noch erwähnen, jenen des bekannten deutschen Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann. Er beschreibt, wie sich die Qualitäten, die es beim Fischen braucht, ins Menschliche übertragen:

„Die Fähigkeiten, die bis dahin während ihrer beruflichen Tätigkeit … gelebt wurden, verwandeln sich nunmehr in Weisen, einander menschlich zu begegnen: Geduld, Wachsamkeit, Ausdauer, Zielstrebigkeit, eine gewisse Langsamkeit der Bewegungen, ein Gespür dafür, den anderen nicht durch Unachtsamkeiten zu verschrecken; all das, was einen guten Fischer ausmacht, werden diese Jünger auch in Zukunft benötigen und brauchen; aber es wird Teil einer menschlichen Haltung…, es hört auf, nur eine berufliche Verfahrensweise zu sein.“ (167)

Ich habe schon hingewiesen auf den sorgfältigen Aufbau unseres Predigttextes mit diesen beiden Berufungsszenen, die ähnlich sind und sich aber auch ergänzen.

Eugen Drewermann hat subtil beobachtet, dass in der ersten Szene Simon Petrus und Andreas die Fischernetze liegen lassen, in der zweiten Szene hingegen Jakobus und Johannes ihren Vater, den Zebedäus zurücklassen.

Im Griechischen steht für „Liegenlassen“ und „Zurücklassen“ jeweils dasselbe Wort. Das verstärkt den Bezug zwischen dem, was jeweils verlassen wird: dem Netz und dem Vater.

Und nun wird es in Drewermanns Auslegung existenziell: Was Simon Petrus und Andreas zurücklassen, ist der Beruf. Was Jakobus und Johannes zurücklassen, ist die Familie. Es sind mithin ganz tiefe Bindungen, aus denen die Jünger hinaustreten.

Was den Beruf anbelangt, äussert sich Drewermann radikal:

„Eines ist es, etwas zu machen …, wovon man leben kann; aber etwas anderes ist es, was uns als Menschen ausmacht und wofür zu leben sich lohnt. Einzig dies ist … entscheidend, wie man die Bestimmung findet, die im eigenen Wesen beschlossen liegt.“ (167)

Auf diese Frage wirft uns der heutige Predigttext zurück: Was ist die Bestimmung, „die im eigenen Wesen beschlossen liegt“?

Die Frage stellt sich in Bezug auf meinen Beruf und sozialen Stand. Sie stellt sich auch in Bezug auf die familiären Bindungen. Auch hier formuliert Drewermann radikal:

„Wir sind nicht berufen, Kindern von Menschen zu sein und zu bleiben; wir besitzen die Fähigkeit, Kinder Gottes zu werden…“ (168)

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Im heutigen Predigttext kommen nur Männer vor. Sogar die Nebenfiguren, der Vater Zebedäus und seine Taglöhner – sogar sie sind männlich. Doch das Thema der Individuation und Emanzipation, das der Text aufwirft – dieses Thema ist ein allgemein menschliches. Es geht uns alle an.

In welchem Ausmass es gerade Frauen betrifft, ist mir in diesen Tagen bewusst geworden, als ich das wunderbare Buch „Der Duft der Blumen bei Nacht“ der zeitgenössischen marokkanisch-französischen Schriftstellerin Leila Slimani las. Sie schreibt im Rückblick auf ihre Adoleszenz:

"Unabhängig werden hiess fliehen, aus diesem Gefängnis ausbrechen, das mein Zuhause war. Spricht man nicht von der Familie als Keimzelle der Gesellschaft? … Weil ich eine Frau war, hatte ich immer Angst, dass das familiäre Schneckenhaus mich erdrücken würde. Angst, Wurzeln zu schlagen… Mir scheint, unser Dasein ist ein einziges Bemühen, unsere Wildheit zu zerstören, uns zur Ordnung zu rufen, unsere Triebe zurechtzustutzen.“(nach 78, 82)

Entsprechend haben die Frauengestalten in Slimanis Romanen oft ein ähnliches Profil:

„Sie leiden darunter, dass sie ein Nest bauen müssen, einen behaglichen und sicheren Ort für ihre Kinder, ein Puppenhaus, dessen lächelnde Gefangene sie sein werden. Man muss für sie ‚da‘ sein, sagt man uns. Eine Frau sollte ‚wissen, wo ihr Platz ist‘.“ (83)

Der Ruf in die Nachfolge führt „hinaus aus dem Puppenhaus“, hinaus in die offene Weite. Man weiss nicht mehr, wo sein Platz ist. Jesus selber weiss es nicht, er sagt, dass Füchse ihre Höhlen und Vögel ihre Nester haben, er selber aber keinen Ort habe, wo er nachts sein Haupt hinlegen kann.

Im Hebräerbrief wird Jesus Christus beschrieben als der Mensch, der keinen Vater und keine Mutter hat, keinen Stammbaum, weder einen Anfang noch ein Ende des Lebens.

All dies schreibt der Autor des Hebräerbriefs – der, übrigens, vielleicht auch eine Autorin war –, obwohl er oder sie natürlich genau wusste, dass Jesus „Sohn des Zimmermanns“ und der Maria war und dass er ein genau datiertes Lebensende hatte.

Trotzdem und gerade so – in einer anderen Kategorie, einer anderen Dimension war er radikal frei von all diesen Bindungen, ist Gott von Gott und Licht von Licht in Ewigkeit.

Und wir, hineingerufen in die Nachfolge Jesu Christi, wir treten hinaus in dieselbe Freiheit, als Söhne und Töchter Gottes, „ihm gleichgestaltet“, christförmig.

All dies geschieht gleichsam en passant. Am Anfang der Lesung heisst es: „Als Jesus den See von Galiläa entlangging“. Der Satz ist völlig unauffällig, belanglos, alltäglich. Doch in dem Satz leuchtet eine der grossen Gotteserscheinungen der Bibel auf, dort im Buch Exodus, wo Mose den Lichtglanz Gottes sehen will.

Darauf antwortet der EWIGE, von Angesicht zu Angesicht könne er ihn nicht sehen. Doch er werde Mose in einen Felsspalt stellen und – wie Jesus dem See entlanggeht – an ihm vorübergehen. Und dann werde er ihn von hinten sehen, so wie die Jünger, denen Jesus sagt: Kommt, hinter mir her! (nach Ex 33, 18-33; Eckey)

Das also ist es, was die Fischer dazu gebracht hat, alles hinter sich zu lassen und aufzubrechen: Sie haben in diesem Menschen das göttliche Licht gesehen. Es leuchtet auch uns. Auch heute, im je eigenen Galiläa unserer Seelen. Folgen wir ihm!

Kaiseraugst, 7. August 2022

Wunder in Kafarnaum: Predigt über Mk 1, 21-34

Einleitung und Text

Es gibt zweifelsohne erstaunliche Phänomene zwischen Himmel und Erde. Eine Ahnung davon gewann ich während mehrwöchiger Aufenthalte in einem Slum in Manila, der Hauptstadt der Philippinen.

Dort hatte ich Gelegenheit, an Gottesdiensten einer Pfingstgemeinde teilzunehmen. Die Menschen, die in extremer Armut leben, sangen und tanzten sich in eine Ekstase der Glückseligkeit hinein, die sie aus dem Elend, der Perspektivenlosigkeit des Alltags heraushob.

Die Gesichter fingen an zu leuchten, und wenn der Pfarrer die Gemeinde mit lauter Stimme fragte: „Do you believe in supranatural miracles?“, „Glaubt ihr an übernatürliche Wunder?“, dann riefen sie unisono: „Yeah!“

In Brasilien wurde mir einmal erlaubt, an einem Ritual des Candomblé teilnehmen, einer faszinierenden synkretistischen Religion, in der afrikanische, von den Sklaven mitgebrachte Traditionen mit Überlieferungen der brasilianischen Indigenen zusammenfliessen.

Bei diesem Ritual versetzte sich der Priester in eine Trance, in der er wirkt, als wäre er betrunken. Dann kamen die Ratsuchenden zu ihm, er heilte, trieb Dämonen aus. Als ich an der Reihe war, fragte er mich, was mein Problem sei.

Ich antwortete, ich habe kein Problem, vielmehr interessiere mich, was er da eigentlich mache. Sogleich änderte sich sein Verhalten, er schien in einen anderen Bewusstseinszustand zu wechseln und erklärte mich sachlich und freundlich, wie er sich in diesem Trancezustand mit der Gottheit verbinde und diese durch ihn wirke. Dann entrückte er wieder in andere Sphären, und der nächste Ratsuchende kam an die Reihe.

Ich kann nicht leugnen, dass diese Erlebnisse eine gewisse Faszination auf mich ausgeübt haben. Und ich zweifle nicht daran, dass viele dieser Priester und Prediger über so etwas wie „übernatürliche“ Gaben verfügen, Heilkräfte, Hellsichtigkeit usw. Das ist nicht alles Scharlatanerie.

Gerd Theissen, ein zeitgenössischer deutscher Neutestamentler, schreibt:

Wundergeschichten „setzen den Glauben an Geister und Dämonen voraus. Dämonen sind ein universales Erbe. Fast alle Kulturen glauben an sie. Die aufgeklärte europäische Kultur ist nur eine kleine Insel in einem Meer von okkultem Glauben.“ (241)

Doch nun bin ich, ob ich will oder nicht, ein Kind dieser „kleinen Insel“. Der Zugang zu diesen Zwischenwelten ist mir mehr oder weniger verschlossen.

Meine Situation als Kind der „aufgeklärten europäischen Kultur“ erinnert mich an jene der Nachgeborenen des grossen Baal Schem Tov. „Bescht“ ist die legendäre Gründerfigur des Chassidismus, einer mystischen Bewegung des Judentums in Ostpolen.

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat die Geschichten der Chassidim gesammelt und in einem Buch herausgegeben.

In besagter Geschichte wird erzählt: Wenn dem Baal Schem Tow eine wichtige Aufgabe bevorstand, dann ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, zündete dort ein Feuer an und sprach bestimmte Gebete. Dann heisst es:

„Und alles, was er dann unternahm, geschah, wie er es sich vorgenommen hatte.“

Eine Generation später ging der Nachfolger des Baal Schem Tov zur selben Stelle im Wald und sprach die Gebete. Doch er wusste nicht mehr, wie man das Feuer entfacht.

Wiederum eine Generation später gingen auch die Gebete vergessen, und in der vierten Generation schliesslich ging auch das Wissen um die bestimmte Stelle im Wald verloren.

Was zunächst betrüblich klingt, hat eine wunderbare Pointe: Der Rabbi der vierten Generation, als er wie einst seine Vorgänger ein wichtiges Werk tun sollte, setzte sich zuhause auf den Stuhl. Er sagte:

„Wir können kein Feuer machen, wir können die vorgeschriebenen Gebete nicht mehr sprechen, wir kennen auch den Ort im Wald nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.”

Und – und dies ist eben die Pointe –: Die Geschichte allein hatte dieselbe Wirkung wie das, was seine Vorgänger getan hatten.

(Quelle: https://www.bistum-magdeburg.de/upload/2013/JahrDesGlaubens/Blatt_02_Baustein_chassidische_Geschichte.pdf)

Die Geschichte allein wirkt. Hören wir aus dem 1. Kapitel des Mk die Verse 21-34. Es ist eine Geschichte von Heilung und Befreiung:

Ein Tag in Kafarnaum (Mk 1, 21-34)

Die Heilung eines Besessenen

1, 21 Und sie kommen nach Kafarnaum. Und sogleich ging er am Sabbat in die Synagoge und lehrte. 22 Und sie waren überwältigt von seiner Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten. 23 Und sogleich war da in ihrer Synagoge einer mit einem unreinen Geist, der schrie laut: 24 Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazaret! Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiss, wer du bist: der Heilige Gottes! 25 Und Jesus schrie ihn an und sprach: Verstumme und fahr aus! 26 Und der unreine Geist zerrte ihn hin und her, schrie mit lauter Stimme und fuhr aus. 27 Und sie erschraken alle so sehr, dass einer den andern fragte: Was ist das? Eine neue Lehre aus Vollmacht? Selbst den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm. 28 Und die Kunde von ihm drang sogleich hinaus ins ganze Umland von Galiläa.

Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus

29 Und sogleich verliessen sie die Synagoge und gingen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und des Andreas. 30 Die Schwiegermutter des Simon aber lag mit hohem Fieber im Bett; und sogleich erzählten sie ihm von ihr. 31 Und er trat herzu, nahm ihre Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.

Weitere Heilungen

32 Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie alle Kranken und Besessenen zu ihm. 33 Und die ganze Stadt war vor der Tür versammelt. 34 Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und die Dämonen liess er nicht reden, weil sie ihn kannten.

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Der Stil des Markusevangeliums ist sehr einfach, ganz nahe beim Stil mündlichen Erzählens. Wenn man wörtlich übersetzen würde, hiesse es zum Beispiel:

Jesus sagte zum unreinen Geist: „Geh hinaus, und er ging hinaus…“

Und dann ein paar Zeilen weiter:

"Die Kunde von Jesus ging sogleich hinaus in die ganze Gegend von Galiläa. Und sogleich gingen sie aus der Synagoge hinaus und gingen in das Haus des Simon usw."

All dieses „Gehen“, „Hinausgehen“ und „sogleich Hinausgehen“ auf engstem Raum klingt stilistisch merkwürdig. Doch eben: Das ist mündliche Tradition, ihre Sprache ist einfach, reduziert, wesentlich – und das „sogleich“ gibt der Story etwas Drängendes, eine Präsenz.

Trotz und mit dieser Einfachheit: Der Text, den wir gehört haben, ist auf seine Weise hohe Literatur.

Er besteht aus drei Abschnitten. Sie erzählen von einer Dämonenaustreibung (einem Exorzismus) und einer Krankenheilung (einer Therapie). Der dritte Teil ist ein Sammelbericht (ein Summarium) – es ergänzt die beiden konkreten Geschichten durch die allgemeine Notiz von vielen weiteren Heilungen und Exorzismen.

Die Geschichten, die da erzählt werden, sind keine direkten Berichte, wie man sie der Zeitung entnimmt. Sie sind stilisiert, formalisiert, gestaltet nach den Regeln der Kunst des Erzählens von sogenannten „Einfachen Formen“, von Legenden, Märchen und Sagen.
Ich will Sie nicht mit Details langweilen, doch immerhin die Grundstruktur sei erwähnt: Jeder Abschnitt hat

• eine Exposition (in der die Akteure auftreten)
• ein Zentrum (in dem die Heilung vollzogen wird)
• und schliesslich einen Schluss, der von verschiedenen Reaktionen erzählt: der Zeugen in der ersten, der geheilten Schwiegermutter in der zweiten und der Dämonen in der dritten Geschichte.

Der Exorzismus wird an einem Mann vollzogen, die Heilung an einer Frau. Der Exorzismus geschieht öffentlich in der Synagoge, die Heilung im intimen, privaten Raum. Alles geschieht an einem Tag, einem Schabbat, an einem Ort, Kafarnaum, was „Dorf des Trostes“ bedeutet.

Überallhin breitet sich also die heilende Energie des Gottesreichs aus, hinaus in die Synagoge und auf den Dorfplatz, hinein ins stille Kämmerlein und bis in die Tiefe des Herzens.

„Luft, die alles füllet“, „Du durchdringest alles“ – so heisst es in dem Lied, das wir nun singen:

Lied: „Gott ist gegenwärtig“ (RG 162, 1.2.4.5)

Predigt

Wenden wir uns nun den drei Geschichten im Einzelnen zu. Meine Bemerkungen zu den Abschnitten klingen jeweils nach in Musik.

1. Die Heilung eines Besessenen

Jesus, heisst es in unserem Text, lehre wie einer, der Vollmacht hat. Das Wort für „Vollmacht“ im griechischen Urtext, „Ex-ousia“, bedeutet eigentlich: „Aus dem Sein“ (Grün 187). Jesus redet und handelt unmittelbar aus der göttlichen Sphäre heraus, nicht wie die Schriftgelehrten, die der grosse Basler Theologieprofessor Eduard Schweizer, bissig, mit den reformierten Pfarrern verglichen hat (Kommentar zur Stelle).

Andere (Drewermann, Grün) gehen noch weiter. Sie sagen, dass das moralische, von Gott, der Gnade und der Liebe abgeschnittene, dem wahren Sein entfremdete Gerede der Schriftgelehrten – dieses ganze Gerede sei die eigentliche Ursache für die „Besessenheit“ des Mann.

Was symbolisch als „Besessenheit“ von einem Dämon ausgedrückt wird, meine eigentlich nichts anderes als Entfremdung vom Sein Gottes, das zugleich Entfremdung von der eigenen Seele ist.

Der „unreine Geist“, der diese Entfremdung repräsentiert, sehnt sich nach dem „Heiligen Geist“, der in Jesus wirkt. Sehnt sich nach dem wahren Sein.

Es ist diese Sehnsucht, die den Dämon als ersten überhaupt das wahre Wesen Jesu erkennen lässt – lange vor seinen Jüngern und seiner Familie.

Jesus, krächzt der Dämon, ist der „Heilige Gottes“, er wirkt aus dem Heiligen, aus der Sphäre Gottes heraus. Wie in dem Lied, das wir zuvor gesungen haben, bringt der „Heilige Gottes“ alles zum Schweigen: „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge“, heisst es in dem Lied.

Dieses „Verstumme“ Jesu erinnert an entsprechende Befehle Gottes im Alten Testament. Da heisst es zum Beispiel:

„Vor deinem Schelten floh die Urflut,
vor deiner Donnerstimme wich sie zurück.“ (Psalm 104, 7)

Die Urflut, Tehom auf Hebräisch, ist im Alten Testament vorgestellt als ein mythischer Drache, eine Chaosmacht, die das Leben auf Erden bedroht.

Und hier, scheint mir, wird unser Text existenziell bedeutsam. Der unreine Geist repräsentiert eine Chaosmacht, die wiederum destruktive Energien im eigenen Leben meint, Zwänge, Abhängigkeiten usw., doch nicht nur: Es geht hier um Chaosmächte, die das Leben auf Erden bedrohen: Epidemien, Krieg, klimatische Veränderungen mit unberechenbaren Folgen. Von alldem sind wir vermutlich mehr betroffen als die Menschen der Antike,. Über all dies spricht Jesus Christus sein: „Verstumme!“

2. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus

Dem Exorzismus-Drama im öffentlichen Raum der Synagoge folgt eine Heilungsgeschichte im privaten Raum. Sie ist ganz leise erzählt, völlig unspektakulär, es ist die kürzeste Heilungsgeschichte des Neuen Testaments, doch mit ein paar konkreten Details, die vermuten lassen, dass sie tatsächlich geschehen ist. Zum Beispiel erfährt man, dass Simon Petrus verheiratet ist.

Am Krankenbett fällt kein Wort. Es ist allein die Berührung, über die sich die heilende Kraft Jesu auf die kranke Frau überträgt. Auch diese Geschichte hat einen typischen Schluss. Diesmal sind es keine hektischen Gesprächsfetzen eines aufgewühlten Publikums. Diesmal heisst es schlicht:

„Da wich das Fieber von ihr, und sie bewirtete sie.“

Das entsprechende griechische Wort, „diakonein“, bedeutet eigentlich „dienen“. Damit scheint das patriarchale Klischee von der „dienenden Frau“ angedeutet zu sein.

Doch im Markusevangelium sind es an anderer Stelle die Engel, die dienen, in der Wüstenszene, die Markus so kurz und träf schildert:

„Und Jesus war bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (1, 13)

Und weiter ist es Jesus Christus selber, der dient. Er sagt von sich selbst:

„Ich bin nicht gekommen, um mir dienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ (10, 45)

Anders die Jünger – sie werden von Jesus mehrfach zum Dienen aufgerufen, ohne Erfolg. An einer Stelle ertappt sie Jesus:

„‘Was habt ihr unterwegs diskutiert?‘ Sie aber schwiegen. Sie hatten nämlich unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer der Grösste sei. Da setzte er sich und sagt zu ihnen: ‚Wenn jemand der Erste sein will, dann soll er der Diener aller sein.‘“ (nach 9, 33-35)

„Dienen“ im Markusevangelium meint also keine in patriarchalen Strukturen spezifisch „weibliche Tugend“, sondern eine Lebenseinstellung, die nicht ums Ego kreist. Die sich hingibt für Mitmenschen und Mitwesen, für die Heilung und Befreiung der Welt.

3. Weitere Heilungen

Es sind nicht nur die Dämonen, denen Jesus sein Schweigegebot auferlegt. In dem Moment, wo Petrus erkennt, wer Jesus ist – „Du bist Christus!“, sagt er –, da „schärft Jesus ihm ein, niemandem etwas über ihn zu sagen.“ (8, 29)

Das Wesen Jesu Christi ist durch das ganze Markusevangelium hindurch eingehüllt in einen Schleier des Geheimnisses. Erst ganz am Schluss, dort wo Christus am Kreuz laut schreit und stirbt – erst dort lüftet sich der Schleier, lichtet sich das Geheimnis. Dort spricht der römische Hauptmann das Bekenntnis aus:

„Ja, dieser Mensch war in Wahrheit Gottes Sohn!“

Ich habe eingangs gesagt, dass mir der Wunderglaube fremd ist, weil ich ein Kind der aufgeklärten europäischen Kultur bin. Doch es gibt noch einen anderen, tieferen Grund für die Fremdheit. Er liegt in meinem persönlichen Glauben:

Im Zentrum meines Glaubens steht Jesus Christus, der hinabgestiegen ist in die tiefsten Tiefen der Welt und meiner Seele. Von dort, vom Kreuz her, glaube ich, dass ich nie allein sein, dass ich immer geborgen, geliebt, gesegnet sein werde. Ich glaube an das Mit-Sein Gottes in Krankheit und Tod, auch in Krieg und Apokalypse.

Im Markusevangelium stehen Jesus Christus als aktiver Wundertäter und Jesus Christus, der radikal passiv gekreuzigt wird, in einer starken Spannung zueinander.

Wo sich der Glaube in diesem Spannungsfeld verortet, ist wohl eine persönliche Sache. Auch innerhalb eines Lebens gibt es wohl verschiedene Phasen. Dass mein Glaube mehr dem Gekreuzigten zugewandt ist, habe ich schon gesagt.

Doch bei meiner Beschäftigung mit dem heutigen Predigttext ist mir deutlich geworden: Auch der Glaube an Wunder hat seine Bedeutung.

Das Wunder an sich, von dem das Neue Testament erzählt, ist die Aufweckung Jesu Christi. In ihr zieht Gott die ganze Welt hinein in sein Licht.

Doch nicht erst im Himmel, im Jenseits soll jede Träne abgewischt werden und „kein Leid und kein Geschrei“ mehr sein, wie es am Ende der Bibel heisst. Jetzt schon, hier unten auf Erden soll das Leid überwunden werden.

Der schon erwähnte Neutestamentler Gerd Theissen fragt nicht ohne Humor:

„Sollte Markus wirklich 16 Wundergeschichten allein deshalb erzählt haben, um vor dem Mirakelglauben zu warnen?“

Natürlich nicht. Vielmehr:

„Die Botschaft des viel belächelten Wunderglaubens ist einer modernen Botschaft verwandt: There is a life before death!“ (vgl. 249f.)

Es gibt ein Leben vor dem Tod! In Leben und Tod: Bhüet eus, Gott!

Kaiseraugst und Magden, 21. August 2022

"Er begab sich an einen einsamen Ort": Meditation über Mk 1, 34b-35 anlässlich einer Taizéfeier

Bei der Lektüre des "Summariums" Mk 1, 32-34 (siehe oben) ist mir ein Detail aufgefallen, auf das ich in der Predigt nicht weiter eingegangen bin: Ganz zum Schluss und also mit dem sogenannten Achtergewicht – das heisst, mit besonderem Gewicht, besonderer Bedeutung – heisst es da:

„Und die Dämonen liess er nicht reden, weil sie ihn kannten.“

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Redeverbot. Eine interessante bietet der bekannte zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann:

Er geht aus von einem alten Wort für Dämonen: Diese wurden früher als „Aber-Geister“ bezeichnet, ein Wort, das uns vom „Aber-Glauben“ her noch vertraut ist:

"Abergeister sind „Stimmen der Opposition und der Verneinung in uns, die auf dem Weg zum Glück, zu uns selbst, zu unserer Wahrheit immer wieder mit mechanischen Gegenreden und Einwänden sich zu Wort melden.
• Kaum meinen wir, mit Händen greifen zu können, wozu wir berufen sind, da beginnen diese ‚Geister‘ in uns zu reden: ‚Aber man darf nicht.‘
• Kaum spüren wir, welch ein Traum in unserer Seele wach werden könnte, da gibt es Stimmen in uns, die sagen: ‚Aber so geht es nicht.‘
• Kaum glauben wir zu wissen, wie wir leben sollten, da beginnt es über uns mit Vorwürfen hereinzuregnen: ‚Aber bilde Dir nur nichts ein!‘“ (207)

Diese automatisch immer „Aber“ sagenden inneren Stimmen sind in der Geschichte symbolisch dargestellt als „Dämonen“ – sie bringt Jesus zum Verstummen.

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Er lässt sie nicht reden, heisst es weiter in dem Vers, „weil sie ihn kannten“. Auch für diese zunächst seltsam wirkende Begründung gibt Drewermann eine einleuchtende Begründung:

„Immer wieder im Markus-Evangelium muss Jesus sich dagegen verwehren, so etwas zu werden wie eine Berühmtheit am Ort, und gerade die ‚Abergeister‘ scheinen das wahre Wesen Jesu nur herauszuschreien, um es im Beifall der Menge und im Getöse einer äusserlichen Bekanntheit zu ersticken.“ (nach 207f.)

„Von einem bestimmten Punkt an“, schreibt Drewermann, vielleicht ja aus eigener Erfahrung, „muss man wählen zwischen Ruhm und Freiheit.“ (208)

Eben deshalb entzieht sich Jesus immer wieder der Menge: um der Versuchung des Ruhms nicht anheimzufallen, um die innere Freiheit zu bewahren. Direkt im Anschluss an das Redeverbot an die Dämonen heisst es:

„Und … er stand auf, ging hinaus und begab sich an einen einsamen Ort, und dort betete er.“ (V. 35)

Auch für uns, die wir in der Nachfolge von Jesus stehen, gilt es, uns immer wieder und je neu an jenen einsamen Ort zu begeben – dort, wo die Seele zur Ruhe kommt, wo sie Frieden findet in Gott und wo die leise Stimme Gottes hörbar wird, wenn das Stimmengewirr der Abergeister endlich verstummt.

Singen wir:

„Mon âme se repose en paix sur Dieu seul“ (Nr. 32 im Taizéheft)

Kaiseraugst, 26. August 2022

„Hört! Der Sämann ging aus, um zu säen“: Predigt zum Gleichnis vom vierfachen Acker und seiner Deutung (Mk 4, 3-9.14-20)

Text:

3 Hört! Der Sämann ging aus, um zu säen. 4 Und beim Säen geschah es, dass etliches auf den Weg fiel, und die Vögel kamen und frassen es. 5 Anderes fiel auf felsigen Boden, wo es nicht viel Erde fand, und es ging sogleich auf, weil die Erde nicht tief genug war. 6 Und als die Sonne aufging, wurde es versengt; und weil es keine Wurzeln hatte, verdorrte es. 7 Anderes fiel unter die Dornen, und die Dornen schossen auf und erstickten es, und es brachte keine Frucht. 8 Wieder anderes fiel auf guten Boden und brachte Frucht. Es ging auf und wuchs. Und das eine trug dreissigfach, das andere sechzigfach, das dritte hundertfach. 9 Und er sprach: Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Kurz darauf ist Jesus allein mit seinen Jüngern. Sie fragen ihn nach dem Sinn des Gleichnisses, das er da erzählt hatte. Jesus antwortet:

14 Der Sämann sät das Wort. 15 Die auf dem Weg aber sind die, bei denen das Wort gesät wird, doch wenn sie es gehört haben, kommt sogleich der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät ist. 16 Und die auf felsigen Boden gesät sind, das sind die, welche das Wort, wenn sie es gehört haben, sogleich freudig aufnehmen. 17 Doch sie haben keine Wurzeln, sondern sind unbeständig. Wenn es danach zu Bedrängnis oder Verfolgung kommt um des Wortes willen, kommen sie gleich zu Fall. 18 Und wieder andere sind die, welche unter die Dornen gesät sind. Das sind die, welche das Wort gehört haben, 19 doch die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum und die Gier nach all den anderen Dingen dringen in sie ein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht. 20 Und die auf guten Boden gesät sind, das sind jene, welche das Wort hören und aufnehmen und Frucht tragen: das eine dreissigfach, das andere sechzigfach, das dritte hundertfach.

Predigt I:

Beginnen wir beim zweiten Teil, der Deutung des Gleichnisses.

Vier Typen von Menschen werden da unterschieden – vielleicht könnte man auch sagen, es seien Aspekte der Seele von jeder und jedem von uns.

1. Die ersten, jene, die auf den Weg fallen, sind die hoffnungslosen Fälle. Auf jenem harten Terrain wird jeder Gedanke an Gott sogleich „weggepickt von den Vögeln“ – so umschreibt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann das, was bei ihnen geschieht. Und doch will er sie nicht fallen lassen – anders als der Bibeltext, bei dem diese Menschen zum Frass des Satans werden, stellt Drewermann fest:

„Wir alle sind mehr als der Staub der Erde; in einem jeden von uns atmet der Lebensodem Gottes… Doch wieviel an Liebe, an Verstehen und an Güte brauchen Menschen, um die Träume der Ewigkeit in ihrem Herzen wieder zu fühlen? Das ist das eigentliche Problem.“ (nach 330f.)

Das Bild vom Samen, der auf dem harten Trampelpfad landet, auf asphaltierter Strasse, betoniertem Boden… --- das Bild lädt ein, die Verhärtungen in der eigenen Seele zu erspüren – und das, was darunter liegt, der „Traum der Ewigkeit im Herzen“.

2. Der zweite Typ sind jene, die auf felsigen Boden gesät sind: Im Hui blühen sie auf, im Hui werden sie wieder versengt. Sie haben keine Wurzeln, sind „unbeständig“, oder, wie es in einer anderen Übersetzung schön heisst: Sie sind „Augenblicksmenschen“.

Diese Menschen, schreibt Drewermann, haben „Angst vor der Tiefe“. Das Bild vom Samen, der aufschiesst und versengt – es lädt ein, sich Zeit zu lassen, sich zu üben in Geduld und Gelassenheit. Drewermann schreibt:

„Ein ganz einfaches Gesetz des Lebens besagt, dass alles, was wahr ist und wachsen will, Zeit braucht und Zeit in Anspruch nehmen darf. Unser eigenes Leben verdient das Vertrauen, dass alles, was darin angelegt ist, ein Recht hat, zu reifen… Lassen wir es wachsen, wird es ein Teil von Gottes Ewigkeit.“ (nach 332)

3. Der dritte Typ sind jene, die unter die Dornen gesät sind. Sie scheinen etwas von dieser „Ewigkeit Gottes“ zu ahnen. Drewermann legt ihnen die folgenden Worte in den Mund:

„Es ist etwas Zauberhaftes um Jesu Botschaft von …, der Weitherzigkeit, der Güte, der Geduld im Einklang mit Gott; aber wir können es nicht leben – die Umstände hindern uns: all die Pflichten, all die Aufgaben, all die Erfordernisse des Alltags, all dieser Verschleiss und das Gehetze von früh bist spät – dagegen kommt man nicht an… – was soll man machen?“ (nach 232f.)

„Was soll man machen?“ Die Samen, die unter die Dornen gesät sind, haben keine Chance. Aber das ist nur ein Bild. „In Wahrheit“, betont Drewermann, haben wir eine Chance:

„In Wahrheit gibt es die objektiven Zwänge nicht; wohl aber gibt es in uns eine Angst, die Zwänge aller Art benötigt und erschafft.“ (333)

4. Wir sind frei, radikal frei von diesen Zwängen. Die ‚Disteln‘ und ‚Dornen‘ des Lebens – es gibt sie in Wahrheit, in der Tiefe meiner Seele gar nicht. Darum, schreibt Drewermann:

„Habe den Mut zur Schönheit deiner eigenen Reifegestalt. Fürchte weder die Tiefe deiner Seele noch die Einengungen deiner Umgebung.“ (333)

Die „Schönheit meiner eigenen Reifegestalt“ – das wäre dann der vierte Typ, jener, der auf guten Boden gesät ist und Frucht trägt. Ihn beschreibt Drewermann so:

„Du bist ein Kind Gottes, und selbst wenn es Stunden gibt, in denen du es kaum zu glauben wagst, vertraue darauf, dass Gott wusste, was er tat, als er dich schuf, als Wunderwerk in seinen Händen.“ (333)

Das scheint ein wunderbarer Predigtschluss zu sein: Ich bin, im Ursprung der Welt, ein Wunderwerk in Gottes Händen. Und wenn ich dieses Wunderwerk zur Entfaltung bringe, dann wird meine eigene „Reifegestalt“ von einzigartiger Schönheit sein. Ja und Amen, meint man hier sagen zu dürfen.

Doch es ist erst ein Zwischenfazit. Denn:

Durchwegs alle Neutestamentlerinnen und Neutestamentler sind sich einig, dass die Deutung des Gleichnisses nicht von Jesus stammt. Sie ist ihm nachträglich in den Mund gelegt worden ist. (vgl. z.B. Jeremias 75f.)

Persönlich bin ich über diesen Befund der Forschung nicht traurig. Denn diese Auslegung des Gleichnisses ist eine veritable „Kapuzinerpredigt“ (Eduard Schweizer), also eine drastische, volkstümliche, moralische Kanzelrede.

Sie ist voll von Drohungen, von Versengen, Ersticken, dem Satan ist da die Rede… Zurecht schreibt Drewermann:

„Diese Sprache der Drohung ist dem ursprünglichen Gleichnis zuwider“ (nach 331).

Wenn man das Gleichnis in seinem ursprünglichen Sinn verstehen will, tut man gut daran, die nachträgliche Deutung zu vergessen und sich dem Gleichnis selbst zuzuwenden. In diesem Gleichnis, auch da ist sich die Forschung einig, wird die ipsissima vox Jesu hörbar, die ureigene Stimme Jesu.

Das Gleichnis beginnt mit dem Aufruf: „Hört!“. Jesus nimmt hier Bezug auf das jüdische Glaubensbekenntnis, das im 5. Buch Mose im Alten Testament überliefert ist:

„Höre, Israel, der EWIGE, dein Gott, ist einer. Und du sollst den EWIGEN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deinem ganzen Leben und deinem ganzen Denken und deiner ganzen Kraft“ (Dtn 6, 4f.)

„Hören“ – das wird in diesem jüdischen Glaubensbekenntnis, im „Schma Israel“ deutlich – ist kein blosses „Zur-Kenntnis-Nehmen“. Hören bedeutet, dass mich etwas in meiner ganzen Existenz, in meinem ganzen Leben bis ins Innerste meines Herzens hinein berührt und betrifft.

Das, was mich so berührt und betrifft – auch das wird im jüdischen Glaubensbekenntnis deutlich – ist Gott. Es ist also Gottes Wirklichkeit, die im Gleichnis von Jesus wächst und Frucht bringt.

„Höre, Israel, der EWIGE, dein Gott, ist einer.“ Wir singen das Bekenntnis in einem kleinen Ad hoc-Chor auf Hebräisch: „Schma Israel, Adonai Elonheinu, Adonai echad.“ Und hören im Nachklang das Gleichnis noch einmal, diesmal pur, ohne deutenden Anhang…

Chant: „Schma Israel“

Das Gleichnis von der wachsenden Saat: Mk 4, 3-8


3 Hört! Der Sämann ging aus, um zu säen. 4 Und beim Säen geschah es, dass etliches auf den Weg fiel, und die Vögel kamen und frassen es. 5 Anderes fiel auf felsigen Boden, wo es nicht viel Erde fand, und es ging sogleich auf, weil die Erde nicht tief genug war. 6 Und als die Sonne aufging, wurde es versengt; und weil es keine Wurzeln hatte, verdorrte es. 7 Anderes fiel unter die Dornen, und die Dornen schossen auf und erstickten es, und es brachte keine Frucht. 8 Wieder anderes fiel auf guten Boden und brachte Frucht. Es ging auf und wuchs. Und das eine trug dreissigfach, das andere sechzigfach, das dritte hundertfach.

Predigt II:

Da werden im Gleichnis zunächst drei Weisen geschildert, wie Saatgut verloren geht: Es fällt auf den Weg und wird von den Vögeln gefressen. Es fällt auf felsigen Boden, kann keine Wurzeln bilden und wird von der Sonne versengt. Es fällt unter die Dornen und erstickt.

Die Schilderung des dreifachen Scheiterns ist episch breit. Ganz am Schluss heisst es resigniert: „und es brachte keine Frucht“. Über dem ganzen Gleichnis, heisst es schön in einem Kommentar, liege eine „Wehmut“ (Thielicke bei Drewermann 324, A. 4)

Die Schilderung jenes Saatguts, das auf guten Boden fällt, ist demgegenüber denkbar knapp: Es brachte Frucht, es ging auf und wuchs, heisst es da kurz und bündig. Und dann, ganz am Schluss, folgen drei Zahlen: dreissigfach, sechzigfach, hundertfach trugen die Samen Frucht, heisst es da.

Auch wenn man keine Ahnung von Ackerbau hat, ahnt man, dass diese Zahlen übertrieben sind. Und tatsächlich sagen Fachleute, dass der normale Ertrag vier- bis siebenfach wäre, nicht dreissig-, sechzig-, hundertfach.

Diese fantastischen, diese – wie man in der Forschung sagt - hyperbolischen Zahlen sind nun aber nicht der Ahnungslosigkeit Jesu geschuldet. Jesus hat diese übertriebenen Zahlen bewusst gewählt, um den Kontrast zum ersten Teil zu betonen. Bewusst nennt er drei Zahlen (dreissig, sechzig, hundert) – das entspricht den drei Formen des Scheiterns, die zuvor in melancholisch-schwerer Ausführlichkeit geschildert werden.

Kehren wir noch einmal zu diesem ersten Teil zurück. Das Ermatten, die Müdigkeit, die Resignation nehmen zu mit jeder Form des Scheiterns, die da monoton geschildert werden: „Etliches fiel“, „anderes fiel“ und nochmals: „anderes fiel“ (vgl. dazu das Herbst-Gedicht von Rilke, Drewermann 326)

Drewermann hat diesen ersten Teil berührend, empathisch, tief seelsorgerlich paraphrasiert:

„All dies, was Jesus in seinem Gleichnis vom Sämann und seinem Acker erzählt, passt in die Perspektive eines Menschen, der von dunkler Entmutigung, von Aussichtslosigkeit und von endgültiger Verzweiflung heimgesucht wird… Da fällt ein Schwarm von Vögeln ein, und er kann es nicht hindern; innerlich ist er erregt, verängstigt und zornig – am liebsten möchte er die ganze Vogelbrut ausrotten; aber sie wird wiederkommen, stündlich und täglich. … Die Steine, die im Acker liegen, hindern die Saat zu wachsen, und man kann den Boden um und um gepflügt haben, so viel man will, es wird überall weiter Steine geben – schliesslich kann man nicht die Erdscholle abtragen bis zum Mittelpunkt der Welt. Je tiefer man kommt, desto härter wird der Felsen. Und das Unkraut gibt es, diesen lebendigen Widerspruch zu allem, was an Nutzpflanzen gesät wurde, und seine Kraft, sich zu vermehren und zu wuchern, ist so gross.“ (324f.)

Dem Psychoanalytiker Eugen Drewermann fällt auf, mit welcher Geduld und Seelenruhe Jesus dieser Weltsicht eines von Depressionen geplagten Menschen Raum gibt. Es gibt, sagt Drewermann, hundert Gründe, die Welt und das eigene Leben so zu sehen:

„Und all diese Gründe verdienen ernstgenommen zu werden; eben deshalb muss die Traurigkeit Worte finden, und die Resignation muss auf Verständnis hoffen können.“ (nach 325)

Der lange Atem Jesu ist zletscht am Änd der Atem Gottes. Zletscht am Änd, sagt Drewermann, sei es dies, was Jesus sagen will:

„‘Ihr könnt die ganze Welt immer wieder so betrachten; ihr könnt ständig darauf achten, … wieviel verlorene Mühe, wieviel an Scheitern, wieviel an Tragischem es in ihr gibt. Ihr werdet schliesslich, wenn ihr nur tief genug in den Abgrund schaut, noch einmal die Hand sehen, die alles trägt…“ (326)

Und dann zitiert er das wunderbare Herbst-Gedicht von Rilke, das mit diesem Motiv des Fallens an das Gleichnis von Jesus erinnert: „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt… Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“

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Die Auslegung Drewermanns ist innerlich, intim, persönlich, und sie hebt die erdenschwer-schwermütige Atmosphäre des Gleichnisses hervor.

Man kann das Gleichnis aber auch völlig anders lesen, etwa so wie der grosse Berner Pfarrer und Dichter Kurt Marti (1921-2017). Er beginnt seine Predigt zu unserem Gleichnis mit der, wie ich finde, sehr lustigen Bemerkung, dass dieser Sämann „kein Berner Bauer“ gewesen sein könne.

Grund für die Annahme ist die verschwenderische Geste, mit der dieser Mann seine Saat verstreut: Manches fällt auf den Weg, anderes auf felsigen Boden, wieder anderes unter die Dornen.

Der Verschleiss scheint ziemlich gross zu sein. Marti sinniert, ob man dem Sämann „einen rationelleren, besseren Ackerbau beibringen“ müsste. Die Antwort lautet: Nein! Denn:

„So arbeitet Jesus, der Herr! … Er geht nicht kalkulierend, sondern spontan vor. Er verschwendet seine Worte...“

Kurt Marti gibt unserem Text den Titel „Gleichnis vom merkwürdigen Sämann“ und sagt träf, was es „uns alle, ob Beamte auf oder unter der Kanzel“ lehrt:

„Dass das Evangelium spontan und verschwenderisch ausgesät sein will. Was wir als unrationelles, unmethodisches Vorgehen ansehen, ist es nicht. Auch Verschwendung ist Methode.“ (76) „So arbeitet Jesus in Galiläa, in Bern und anderswo: ohne rationalisierte Organisation, ohne ausgeklügelte Strategie, ohne Anlegung von Kartotheken, ohne ausgeklügelte Werbetechnik…“ (nach 74)

Kurt Marti hielt diese Predigt vor mehr als einem halben Jahrhundert. Seine Kritik an der Kirche als Institution ist heute möglicherweise noch zutreffender als damals. „Die Spontaneität“, sagt Marti pointiert, „droht in Berechnung zu ersticken.“ (nach 76)

Das sind erfrischende Worte für „Kirchenträumer“ (Sölle), die sich nach einer Kirche sehnen, die einem leichten Zelt gleicht, durch die die Ruach weht, die göttliche Geistkraft, und einen tief und frei atmen lässt.

Indessen fragt man sich: Who cares? Wen kümmert es? Auch wenn einem die Kirche etwas bedeutet – es sind doch eigentlich andere Fragen, die einen beschäftigen.

Der französische Theologe Alfred Loisy stellte einst fest: „Jesus kündete das Reich Gottes an und gekommen ist die Kirche.“

Im Gegensatz zur Institution der Kirche ist das „Reich Gottes“ eine kosmische, das All umfassende Grösse. Sie umfängt all das, was einen wirklich umtreibt in der Zeit, in der wir leben: Pandemien, Kriege, die klimatischen Veränderungen mit unabsehbaren Folgen.

All dies ist enthalten im Gleichnis: in den Vögeln, die die Saatkörner fressen, in der Sonne, die die Körner versengt, in den Dornen, die sie ersticken. Doch all das hat nicht das letzte Wort.

Am Schluss des Gleichnisses, dort, wo mit dem sogenannten Achtergewicht das Letztgültige gesagt wird, sagt Jesus: „Anderes ging auf und wuchs und brachte Frucht, dreissig-, sechzig-, hundertfach“.

Die Ernte am Ende der Zeit wird überwältigend sein, auch wenn das, typisch für Jesu Gleichnisse, nur angedeutet ist. Nur leise spricht das Gleichnis von den letzten Dingen, der Vollendung der Welt, der Vollendung des eigenen Lebens.

Eugen Drewermann ahnt das unendlich grosse Ausmass dessen, das dieses kleine Gleichnis in sich trägt, und schwingt am Ende seiner Auslegung aus in hymnische Worte:

„Dem Sämann der Ewigkeit, dürfen wir zutrauen, dass er wusste, was er tat, als er uns dem Strom der Zeit auslieferte; bei ihm hat unser Leben Lohn, Ertrag und Wert, oft hundertmal mehr, als wir ahnen… Saatgut der Unsterblichkeit sind wir, Aussaat des Himmels, dazu bestimmt, mit allem Reichtum dieser Welt zurückzukehren zu den Sternen.“ (nach 327)

„Saatgut der Unsterblichkeit“ sind wir. Im Strom der Zeit und einst, wenn wir zurückkehren zu den Sternen: Bhüet eus, Gott!

Kaiseraugst, 28. August 2022

"Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden soll": Predigt über Mk 4, 22

Einleitung:

Am letzten Wochenende hatte ich Gelegenheit, an einem Meditations-Retreat in der Propstei Wislikofen teilzunehmen. Man war da durchgehend im Schweigen, sass viele Stunden am Tag auf einem Kissen auf dem Boden, nachts im Mondlicht entstand eine ganz besondere, monastisch-romantische Atmosphäre.

Meine Meditationslehrerin – die in Basel wohnhafte katholische Theologin Hildegard Schmittfull – gab mir ein „Schlüsselwort“, um in der Stille darüber nachzudenken, zu brüten – Ruminatio nennt man das in der christlich-spirituellen Tradition. Dieses lateinische Wort bedeutet „Wiederkäuen“, wie eine Kuh es tut. Martin Luther sprach von einem „Wiederkäuen des Herzens“.

Der Vers, mit dem ich mich da also befasste, steht in Markus 4, 22 und lautet:

"Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll."

Der eine Vers begann in mir zu arbeiten, grub sich hinab in tiefere Schichten der Seele.

Zurück im Alltag, hat mich der Vers nicht mehr losgelassen. Und so habe ich angefangen, Predigten, Textmeditationen und wissenschaftliche Kommentare dazu zu lesen.

Bei dieser – nun durchaus auch intellektuellen – Auseinandersetzung mit dem Vers ist mir unter anderem Folgendes deutlich geworden:

Der Vers ist in den Evangelien mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen überliefert. Und je nach Zusammenhang verändert sich jeweils der Sinn.

Auf zwei dieser verschiedenen Überlieferungen (es gäbe noch mehr, insgesamt sind es vier) möchte ich mich in der heutigen Predigt konzentrieren.

Die erste Überlieferung steht im Lukasevangelium. Dort heisst es in Kapitel 12, 1-3:

Hütet euch vor dem Sauerteig - gemeint ist die Heuchelei - der Pharisäer! Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts ist geheim, was nicht bekannt werden wird. Darum wird alles, was ihr im Dunkeln gesagt habt, im Licht gehört werden, und was ihr in den Kammern ins Ohr geflüstert habt, auf den Dächern ausgerufen werden.

Die zweite Überlieferung ist jene im Markusevangelium, Kapitel 4, 21f.:

Kommt etwa das Licht, damit man es unter den Scheffel oder unter das Bett stellt? Nein, damit man es auf den Leuchter stellt! Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll.

Und noch etwas ist deutlich geworden bei dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Vers: Die meisten gängigen Übersetzungen, auch jene der Zürcher Bibel, sind ungenau bzw. geglättet.

Das ist verständlich, denn die genaue Übersetzung ist wirklich verwirrend. Sie lautet so:

„Es gibt nichts Verborgenes, ausser damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, ausser damit es an den Tag komme.“

Das Seltsame ist dieses doppelte „DAMIT“. Eugen Drewermann, der bekannte zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker, bietet in seinem Kommentar zwar die genaue Übersetzung, schreibt aber nachher, der ursprüngliche Text sei hier „offenbar hoffnungslos verwirrt“. Nein, „so absurd“, konstatiert Drewermann, „kann es nicht geheissen haben“.

Doch wer weiss, vielleicht täuscht sich der grosse Drewermann hier für einmal. Jedenfalls – wir haben nun also dreimal denselben Text, aber je nach Zusammenhang und Übersetzung ergibt sich jeweils ein anderer Sinn. Diesem dreifachen Sinn werde ich anschliessend in einer dreiteiligen Predigt nachzuspüren versuchen.

Soviel vorweg: Der dreifache Sinn unseres Spruchs scheint mir dem dreifachen Weg zu entsprechen, den die christliche Spiritualität beschreibt. Auf lateinisch lauten die Wege:

Via Purgativa / Via Illuminativa / Via Unitiva

Auf Deutsch :

Weg der Reinigung / Weg der Erleuchtung / Weg der Einigung

• Auf dem Weg der Reinigung werden wir frei von der Heuchelei, von der die Version im Lukasevangelium spricht.
• Erleuchtung tritt ein, wenn das Licht unter dem Scheffel hervorgeholt wird.
• Und die Einigung geschieht, wenn sich der verborgene göttliche Grund in mir mit meiner Existenz zu einem neuen, einzigartigen Ausdruck des Lebens verbindet.

Das Gebet von Bruder Klaus bringt die drei Wege auf dichteste, konzentrierteste Art zum Ausdruck:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir:


Via purgativa, Weg der Reinigung

Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich führet zu Dir:


Via illuminativa, Weg der Erleuchtung

Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir:


Via unitiva, Weg der Vereinigung

Singen wir das Bruder-Klausen-Gebet bei Nummer 650 – dreimal.

Lied: „Mein Herr und mein Gott“ (650, 3x)

Predigt


1. Lk 12, 1-3: Via purgativa

Hütet euch vor dem Sauerteig - gemeint ist die Heuchelei - der Pharisäer! Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts ist geheim, was nicht bekannt werden wird. Darum wird alles, was ihr im Dunkeln gesagt habt, im Licht gehört werden, und was ihr in den Kammern ins Ohr geflüstert habt, auf den Dächern ausgerufen werden.

Die Pharisäer im Neuen Testament sind nicht einfach identisch mit den historischen Pharisäern, also den Vertretern des gesetzestreuen Judentums. Die Pharisäer im Neuen Testament sind holzschnittartig überzeichnete literarische Figuren.

Als solche sind der Inbegriff einer rechthaberischen Instanz, die ganz genau weiss, was gut und richtig ist, die mit dem Finger auf jene zeigt, die sich nicht normgemäss verhalten, die Normen, Gesetze, Regeln für wichtiger hält als das Leben selbst.

Interessant wird so eine Figur erst, wenn ich sie zu mir selber in Bezug setze – was für uns alle gilt und für mich als Pfarrer vielleicht besonders.

Huldrych Zwingli etwa hat die Pharisäer direkt auf die Pfaffen bezogen, die er mit einer träfen Formulierung als „stolz wie Holz“ bezeichnet. Und er droht ihnen, er „drehe und drechsle dieses Holz so lange, bis man sieht, dass du ein Heuchler bist.“ (40)

„Fleischliche Geistliche“ seien sie, faule, fette Säcke, die im Gegensatz zu den normalen Bürgerinnen und Bürgern nichts arbeiten. Mit beissendem Spott sagt er ihnen und mir, der ich bis gestern gefastet habe:

„Weil du keiner Arbeit nachgehst, solltest du tatsächlich viel fasten und häufig auf Speisen verzichten, die dich zum Schlendrian verführen. Dem Arbeiter aber vergeht der Spass von selbst an der Hacke, am Pflug, auf dem Feld.“ (nach 39)

Mit dieser deftigen Priester-Kritik steht Zwingli in der Tradition der nicht minder deftigen Pharisäer-Kritik Jesu: Sie seien getünchte Gräber, sagt er, gegen aussen weiss gemalt und sauber gepützelt, innen aber modrig und stinkend.

Das, was sich da unten im Grab verbirgt, das, was der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung als „Schatten“ bezeichnet, das wird nun eben offenbar, es tritt an den Tag.

In ihrem spirituellen Kommentar zu unserem Vers schreibt die St. Galler Heilpädagogin und Meditationslehrerin Margrit Wenk-Schlegel, was dieses Offenbarwerden des Schattens konkret bedeuten kann:

„Verdrängtes, unter den Scheffel Gestelltes… kann sich plötzlich zeigen. Schutzmechanismen, die wir in unserem Leben aufgebaut haben, werden bewusst, und wir erkennen, dass sie wohl zum Schutz gedient haben, aber dass durch sie auch heute Wünschenswertes verunmöglicht wird. Alte Verletzungen können ans Licht kommen, und heftige Emotionen können dieses Auftauchen begleiten. So kann eine vergessene, in der Vergangenheit erlebte Situation plötzlich auftauchen, oft begleitet von intensiven Gefühlen…“ „Der Weg nach innen ist also eine intensive Selbstbegegnung mit allen Aspekten der Persönlichkeit.“ (nach 104f.)

Diese Selbstbegegnung, die Begegnung mit dem eigenen Schatten ist der erste der drei Wege, die „via purgativa“, der „Weg der Reinigung“.

Klavier-Improvisation über „Mein Herr und mein Gott“

2. Mk 4, 21f.: Via illuminativa


Kommt denn das Licht, damit man es unter den Scheffel oder unter das Bett stellt? Nein, damit man es auf den Leuchter stellt! Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll.

Nun geht es nicht mehr um die Schattenseiten. Nun geht es darum, dass es im Grund meiner Seele etwas Verborgenes gibt, das offenbar werden will. Dieses Verborgene ist nichts anderes als: Gott.

Das kommt in den folgenden schönen Worten des deutschen Mönchs und Mystikers des Mittelalters Johannes Tauler zum Ausdruck:

„Die Gott-Suche besteht darin, dass der Mensch hineingeht in seinen eigenen Grund, in das Innerste und da Gott sucht; wer Gott finden will, der muss ihn da suchen, wo er ist: nämlich im innersten Grund, wo Gott dem Menschen näher ist als er sich selbst.“ (nach 179)

Das göttliche Licht ist in der Tiefe meiner Seele verborgen wie das Licht unter dem Scheffel – ein Scheffel ist übrigens ein Getreidemass.

Dass man eine Öllampe anzündet und unter ein Hohlmass stellt, ist natürlich absurd. Licht ist zum Leuchten da. Es gilt also, das Licht unter dem Scheffel hervorzuholen – und dasselbe gilt für unser eigenes, inneres Licht, den göttlichen Funken im Grund meiner Seele.

Der Weg zur Erleuchtung heisst in der christlichen spirituellen Tradition „Via illuminativa“. Diese Erleuchtung bezieht sich nicht nur auf den Scheffel meines Leibs und Lebens – der Scheffel ist auch die ganze Menschheit, er ist unsere Erde, das ganze Universum.

Überall, in allen Wesen, in der ganzen Welt sind sie verborgen, die Lichtfunken Gottes. Das deutet der folgende Text an, ein persönliches Gedicht der schon erwähnten St. Galler Meditationslehrerin Margrit Wenk. Sie nennt ihn „einen stammelnden Versuch, Unsagbares in Worte zu fassen“. Die Worte klingen nach in Musik.

„Namenloser Grund, Urquelle,
die ohne Du und jedes Du doch bist,
die sich gebiert in tausendfacher Art.
Du lebst, entfaltest dich in jedem Wesen
und stirbst die Millionen Tode – doch bleibst du unverändert da.
Ach, könnte ich dich je erfassen, Geheimnis, unergründlich tief!“

Klavier-Improvisation über „Mein Herr und mein Gott“

3. Via Unitiva


Die „Illuminatio“, die Erleuchtungserfahrung gilt es zu inkarnieren, gilt es, in Leib und Leben, hier unten auf Erden, im Alltag zu verwirklichen. Das ist der Weg, der in der christlich-spirituellen Tradition als „Via Unitiva“ beschrieben wird, als Weg der Vereinigung von Gott und Mensch, Mensch und Gott.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, unseren Vers im Urtext anzuschauen. Dann zeigt sich – wie eingangs schon erwähnt –, dass die Übersetzung der Zürcher Bibel hier ungenau ist. Dass sie den Text glättet, das Unverständlich-Sperrige verständlich macht, ihm damit aber auch die Tiefe nimmt. Die genaue Übersetzung des Verses lautet:

„Es gibt nichts Verborgenes, ausser damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, ausser damit es an den komme.“

Zunächst denkt man mit Drewermann: Dieser Text ist „hoffnungslos verwirrt… So absurd kann es nicht geheissen haben!“ (nach 341).

Doch unter dem Gesichtspunkt der Via Unitiva scheint mir dieses „DAMIT“ tiefen Sinn zu gewinnen.

Um zu diesem Sinn zu gelangen, gilt es zurückzukehren zur ersten und grössten Frage der Philosophie: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“

Oder ins Theologische gewendet: Warum hat Gott die Schöpfung geschaffen? Warum genügte sich Gott nicht selbst?

Vielleicht, könnte man spekulieren, hatte Gott ja selber ein Interesse an dem, was dort draussen, ausserhalb seiner selbst geschieht. Vielleicht ging es ihm um eine Ausweitung seines eigenen Erfahrungshorizonts.

In diese Richtung gehen die Überlegungen, die der grosse deutsch-amerikanische Theologe Paul Tillich (1886-1965) formuliert hat.

Tillich unterscheidet zwischen Essenz und Existenz:

• Die Essenz ist die Welt Gottes, aus der wir herkommen, in die wir zurückkehren.
• Die Existenz meint unser Dasein auf Erden.

Diese Existenz, unser Erdendasein ist aber nicht ohne Bezug zur Essenz, zum Himmel. Vielmehr tragen wir unsere Erfahrungen hier unten auf Erden zurück in Gott hinein und erweitern so seinen Erfahrungshorizont. Tillich beschreibt diesen Prozess sinngemäss so:

„Das Neue, das wir hier in Raum und Zeit erfahren, fügt dem göttlichen Leben etwas hinzu… Man könnte von einer ‚Anreicherung‘ des göttlichen Lebens durch unsere irdischen Erfahrungen sprechen. Dieser Gedanke gibt den Geschöpfen in Raum und Zeit unendliches Gewicht.“ (nach 453)

All das, was wir hier unten erfahren, verlischt nicht, es geht nicht vergessen noch verloren. Es wird aufgehoben, aufbewahrt, geborgen sein im allumfassenden Gedächtnis Gottes. Es wird dort, in Gott, letztgültige Würdigung erfahren.

Denn, wie Tillich sagt: Es dient der „Anreicherung“ des göttlichen Gedächtnisses, der Aufweitung des göttlichen Erfahrungshorizonts.

Das göttliche Licht hat sich also gleichsam absichtlich unter diesen Scheffel verkrochen, den Scheffel meines Leibs, den Scheffel dieses Planeten, den Scheffel des Universums – „DAMIT“ (!) es hier Erfahrungen macht, die es im Licht nie und nimmer hätte machen können.

Diesen paradoxen Sachverhalt, der an die Grenze des Denkbaren und Sagbaren führt, schildert der US-amerikanische Autor Neal Donald Walsch in seinem spirituellen Bestseller „Gespräche mit Gott“, mit einer einfachen, rührend-kindlichen Geschichte:

„Es war einmal eine Seele, die sich als das Licht erkannte. Es war eine sehr neue Seele und deshalb auf Erfahrung erpicht. „Ich bin das Licht“, sagte sie. „Ich bin das Licht.“ Doch all dieses Wissen und Aussprechen konnte die Erfahrung davon nicht ersetzen. Und in dem Reich, aus dem die Seele auftauchte, gab es nichts ausser dem Licht. Jede Seele war grossartig, jede Seele war herrlich, und jede Seele erstrahlte im Glanz von Gottes ehrfurcht-gebietendem Licht. Und so war diese kleine Seele eine Kerzenflamme in der Sonne. Inmitten des grandiosesten Lichts – von dem sie ein Teil war – konnte sie sich selbst nicht sehen und auch nicht erfahren, wer-und-was-sie-wirklich-ist.

Nun geschah es, dass diese Seele sich danach sehnte und verzehrte, sich selbst kennenzulernen. Und so gross war ihr Verlangen, dass Gott eines Tages zu ihr sagte: „Weisst du, Kleines, was du tun musst, um dein Verlangen zu befriedigen?“ „Oh, was denn, Gott? Was? Ich werde alles tun!“ sagte die kleine Seele.

„Du musst dich vom Rest von uns trennen“, gab Gott ihr zur Antwort, „und dann musst du für dich die Finsternis herbeirufen.“ „Was ist die Finsternis, o Heiligkeit?“ fragte die kleine Seele. „Das, was du nicht bist“, erwiderte Gott, und die Seele verstand.

Und so entfernte sie sich von Allem und machte sich auf in ein anderes Reich. Und in diesem Reich hatte die Seele die Macht, sämtliche möglichen Formen von Finsternis in ihre Erfahrung zu rufen. Und das tat sie auch.

Doch inmitten all der Finsternis rief sie aus: „Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?“ So wie ihr das auch in euren dunkelsten Zeiten getan habt. Doch Gott hat euch nie verlassen. Er ist euch immer zur Seite gestanden, bereit, euch daran zu erinnern, wer-ihr-wirklich-seid; bereit, immer bereit, euch nach Hause zu rufen.

Parabel von der kleinen Seele und der Sonne
(nach Neal Donald Walsh, „Gespräche mit Gott“ Bd. 1, S. 63f.)


Wir werden also die Gotteskinder, die wir immer schon gewesen sind – und was wir unterwegs, in der „Finsternis“ erfahren, das bringen wir zurück, das tragen wir heim ins göttliche Licht.

Auf unserem Weg nach Hause: Bhüet eus Gott!

Klavier-Improvisation über „Mein Herr und mein Gott“

Rheinfelden, 16. Oktober 2022

"Keine Tangobeleuchtung, kein Zwielicht": Noch einmal zu Mk 4, 22, diesmal ein Vortrag

Ausnahmsweise betrachten wir heute keinen ganzen Abschnitt, keine ganze Heilungsgeschichte, kein ganzes Gleichnis, sondern einen einzelnen Vers, nämlich Mk 4, 22. In der Übersetzung der Zürcher Bibel lautet er:

Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll.

Der Vers ist ein typisches Beispiel für einen Ausspruch Jesu, der in verschiedenen Zusammenhängen überliefert ist. Über den ursprünglichen Zusammenhang und Sinn kann man nur spekulieren. Hören wir den Vers zunächst in zwei der insgesamt vier Kontexte, in denen er im Neuen Testament vorkommt:

Mk 4, 21f.
Kommt denn das Licht, damit man es unter den Scheffel oder unter das Bett stellt? Nein, damit man es auf den Leuchter stellt! Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll.

Die folgende Version, jene bei Lukas, ist der markinischen sehr ähnlich. Man kann davon ausgehen, dass Lukas sie schriftlich vor sich liegen und stilistisch etwas seinem gehobenen Griechisch angepasst hat:

Lk 8, 16f.
Niemand zündet ein Licht an und deckt es mit einem Gefäss zu oder stellt es unter ein Bett. Vielmehr stellt man es auf einen Leuchter, damit die Eintretenden das Licht sehen. Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird und an den Tag kommt.

Die sogenannte Zwei-Quellen-Theorie ist das in der Wissenschaft am weitesten verbreitete Modell zur Entstehung der drei synoptischen Evangelien Matthäus-Markus-Lukas. Gemäss dieser Theorie ist Markus das älteste Evangelium. Es lag Matthäus und Lukas vor, als sie die ihren verfassten. Ausserdem hatten die beiden noch eine Quelle – die sogenannte Quelle „Q“, ein hypothetischer Text, der die Gemeinsamkeiten von Matthäus und Lukas erklärt, die nicht auf Markus zurückzuführen sind. Der Spruch, den wir heute anschauen, ist offenbar auch in Q überliefert. Bei Matthäus findet sich nur die Q-Version. Jene von Markus hat er nicht übernommen, vielleicht, weil er die Doppelung vermeiden wollte. Bei Mt heisst es:

Mt 10, 26f.

Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts geheim, was nicht bekannt werden wird. Was ich euch im Dunkeln sage, das sagt im Licht. Und was ihr ins Ohr geflüstert bekommt, das ruft aus auf den Dächern.

Hier geht es um die Verkündigung dessen, was die Jünger von Jesus empfangen haben, in die ganze Welt. Auch Lukas kennt diese Überlieferung – doch bei ihm bekommt der Sinn des Spruchs eine andere Nuance:

Lk 12, 1-3: Via purgativa


Vor allem hütet euch vor dem Sauerteig - gemeint ist die Heuchelei - der Pharisäer! Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts ist geheim, was nicht bekannt werden wird. Darum wird alles, was ihr im Dunkeln gesagt habt, im Licht gehört werden, und was ihr in den Kammern ins Ohr geflüstert habt, auf den Dächern ausgerufen werden.

In den antiken Häusern, muss man sich vorstellen, gab es fensterlose Kammern. Was man sich dort drin im Dunkeln ins Ohr geflüstert hat, wird nun also auf den Dächern ausgerufen. Die Dächer der Häuser waren Teil des Lebensraums. Dazu gehörte auch die Konversation unter Nachbarn. Was dort oben ausgerufen wird, das ist nachher im ganzen Dorf bekannt.

Das nun könnte der Ausgangspunkt des Spruchs sein, der ursprünglich vielleicht ein Sprichwort war, so etwas wie das Gesetz des Dorfklatschs: „Nichts ist geheim, was nicht bekannt wird.“ Ein Kommentator (Eckey) erinnert an Sprichwörter, die bei uns im Umlauf sind:

„Die Sonne bringt es an den Tag.“
„Nichts wird so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.“

Jesus nimmt dieses Gesetz des Dorfklatschs auf und überträgt es in die Eschatologie (die Lehre von den letzten Dingen in der Theologie). Das Motiv des Dachs, auf dem die Geheimnisse verkündet werden (Kirisso), geht hinüber in jenes des Jüngsten Gerichts (vgl. Schweizer, Lukas, S. 133), an dem alles Verborgene ans Tageslicht kommt.

Die Formulierung ist passivisch – vielleicht erinnert sich der eine oder die andere an das passivum divinum, das „göttliche Passiv“. Der Akteur in der passiven Formulierung ist Gott selber oder ein göttliches Wesen, ein Engel mit der Gerichtsposaune.

Derselbe Gedanke steht, übrigens, auch ganz am Schluss des Buchs von Kohelet – wobei der Schluss deutlich sekundär ist. Im allerletzten Vers, Koh 12, 14 heisst es dort:

„Denn alles Tun bringt Gott vor ein Gericht über alles Verborgene, es sei gut oder böse.“

Das belastete Theologumenon (theologische Konzept) des Jüngsten Gericht ist, glaube ich, mit Paul Tillich als Symbol zu verstehen, ebenso wie „Himmel“ und „Hölle“. Wenn diese Symbole wörtlich genommen und damit entstellt werden, generieren sie Neurosen und schaffen Stoff für die Psychotherapeuten. Tillich schreibt bissig:

„Er (der Stoff für die Psychotherapeuten) wäre geringer, wenn … die Predigten die abergläubischen Implikationen vermieden, die mit dem wörtlichen Gebrauch dieser Symbole verbunden sind.“ (473)

Als Symbol aber hat das Jüngste Gericht tiefe Bedeutung. Im Jüngsten Gericht wird das Ganze meiner Existenz offenbar – und dies, gemäss Tillich, nicht in einer fernen Zukunft auf der Zeitachse, sondern „hier und jetzt, in dem dauernden Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen“ (451).

Das heisst, wenn ich ausgerichtet bin auf Gott, wenn ich verbunden bin mit dem Ewigen, dann vollzieht sich das „Gericht“ an meiner Existenz im Hier und Jetzt.

Dann wird die „Heuchelei“ entlarvt. Das entsprechende griechische Wort meint Schauspielerei, also die Maske, die ich anziehe im gesellschaftlichen Spiel. Vom Sauerteig gilt, dass eine ganz kleine Menge genügt, um den ganzen Teig zu durchsäuern. Die Heuchelei ist mithin ein Gift, das sich in der ganzen Existenz ausbreitet.

Die Pharisäer – wohlbemerkt, nicht die historischen Pharisäer als die Vertreter des gesetzestreuen Judentums, sondern die Pharisäer als im Neuen Testament holzschnittartig dargestellte, überzeichnete literarische Figuren –sind der Inbegriff der rechthaberischen Instanz, die ganz genau weiss, was gut und richtig ist, die mit dem Finger auf jene zeigt, die sich nicht normgemäss verhalten, die Normen, Gesetze, Regeln für wichtiger hält als das Leben selbst.

Eine der lustig-komischsten Szenen in der Bibel ist jenes Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner (Lk 18, 9-14), wo es heisst:

„Der Pharisäer stellte sich hin und betete: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, wie Räuber, Beträger, Ehebrecher oder wie dieser Zöllner da…“

Interessant wird so eine Figur erst, wenn ich sie als literarische und archetypische wahrnehme und zu mir selber in Bezug setze – was für uns alle gilt und für mich als Pfarrer vielleicht besonders. Zwingli etwa hat den Pharisäer-Archetypen direkt auf die Pfaffen bezogen, die er mit einer träfen Formulierung als „stolz wie Holz“ bezeichnet. Und er droht ihnen, er „drehe und drechsle dieses Holz so lange, bis man sieht, dass du ein Heuchler bist.“ (40)

„Fleischliche Geistliche“ seien sie, faule, fette Säcke, die im Gegensatz zu den normalen Bürgerinnen und Bürgern nichts arbeiten. Mit beissendem Spott sagt er ihnen und mir, der ich derzeit faste:

„Weil du keiner Arbeit nachgehst, solltest du tatsächlich viel fasten und häufig auf Speisen verzichten, die dich zum Schlendrian verführen. Dem Arbeiter aber vergeht der Spass von selbst an der Hacke, am Pflug, auf dem Feld.“ (nach 39)

Mit dieser deftigen Priester-Kritik steht Zwingli in der Tradition der nicht minder deftigen Pharisäer-Kritik Jesu: Sie seien getünchte Gräber, sagt er, gegen aussen weiss gemalt und sauber gepützelt, innen aber modrig und stinkend.

Das, was sich unten, innen im Grab verbirgt, das wird nun eben offenbar, es tritt an den Tag.

„Keine Tangobeleuchtung, kein Zwielicht“, stellt der Berner Dichterpfarrer Kurt Marti in einer Predigt zu unserem Vers fest. Sondern „eine Sonne, die alle Finsternis auflöst!“ Die Sonne, sagt Marti, ist Jesus Christus. In seinem Licht werden „unsere höchsteigenen Hintergedanken aufgedeckt“. Mit unseren Seelen sei es wie mit dem Mond: Da ist immer nur die eine Hälft sichtbar. Die andere, die „dunkle Seite“ verbleibt im Dunkeln:

„Im martialischen Obersten versteckt sich ein Kind, das am liebsten Johanna Spyri liest; in der sittenstrengen Dame ein munteres Mädchen, das tanzen möchte.“

Doch nun erhellt das Licht der Christus-Sonne das Ganze. Was dabei sichtbar wird, kann ziemlich peinlich sein:

„Es zeigt sich der Gottlose, der sich im Frommen verbirgt; es zeigt sich hinter freundlichem Lächeln der heimliche Hass; im Glauben wird Unglaube sichtbar, in Züchtigkeit Unzucht, im Erfolg die Verzweiflung, in der Kirche der Atheismus.“

Im Licht der Christus-Sonne zeigt sich das, was C.G. Jung als „Schatten“ bezeichnet. In ihrem spirituellen Kommentar zu unserem Schlüsselwort schreibt die St. Galler Heilpädagogin und Meditationslehrerin Margrit Wenk-Schlegel, was dieses Offenbarwerden des Schattens konkret bedeuten kann:

„Verdrängtes, unter den Scheffel Gestelltes… kann sich plötzlich zeigen. Schutzmechanismen, die wir in unserem Leben aufgebaut haben, werden bewusst, und wir erkennen, dass sie wohl zum Schutz gedient haben, aber dass durch sie auch heute Wünschenswertes verunmöglicht wird. Alte Verletzungen können ans Licht kommen, und heftige Emotionen können dieses Auftauchen begleiten. So kann während der Meditation eine vergessene, in der Vergangenheit erlebte Situation plötzlich auftauchen, oft begleitet von intensiven Gefühlen…“ „Der Weg nach innen ist also eine intensive Selbstbegegnung mit allen Aspekten der Persönlichkeit.“ (104f.)

Der Weg nach innen wird in der christlich-mystischen Tradition als dreifacher beschrieben, als „via purgativa, illuminativa und unitiva“, als Weg der Reinigung, der Erleuchtung und der Einigung. Dieser Aspekt der Selbstbegegnung, der Begegnung mit dem eigenen Schatten, des „Gerichts“ ist der erste der drei Wege, die „via purgativa“, der „Weg der Reinigung“. Und weil Margrit Wenk in ihrem Kommentar meinen Lieblingsspruch von Johannes Tauler zitiert, den von den Bärenhäuten, sei dieser an den Schluss dieses ersten Abschnittes gestellt:

„Woher kommt das, dass der Mensch auf keine Weise in seinen Grund gelangen kann? Das ist daran schuld: Da ist so manche dicke, schreckliche Haut darüber gezogen, ganz so dick wie Ochsenstirnen, und die haben ihm sein Inneres so verdeckt, dass weder Gott noch er selber da hinein kann. Es ist zugewachsen. Manche Menschen können dreissig oder vierzig Häute haben, dicke, grobe, schwarze Häute, wie Bärenhäute.“ (105)

Wenn wir nun weiter gehen von dem Zusammenhang, in dem unser Vers bei Lukas steht, hin zu jenem bei Markus, dann zeigt sich hier die via illuminativa, der Weg der Erleuchtung. Das Licht kommt unter dem Scheffel hervor und wird auf den Leuchter gestellt:

Mk 4, 21f.: Via illuminativa

Kommt denn das Licht, damit man es unter den Scheffel oder unter das Bett stellt? Nein, damit man es auf den Leuchter stellt! Denn es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommen soll.

Hier geht es also nicht um die Schattenseiten meiner Seele, die sichtbar werden, wenn im „Jüngsten Gericht“ die Ganzheit meines Lebens beleuchtet wird. Hier geht es darum, dass es im Grund meiner Seele etwas Verborgenes gibt, das offenbar werden will. Dieses Verborgene ist nichts anderes als: Gott selbst. Das kommt in den folgenden schönen Worten von Johannes Tauler zum Ausdruck:

„Das innerliche Gott-suchen besteht darin, dass der Mensch hineingeht in seinen eigenen Grund, in das Innerste und das den Herrn sucht; wie er uns auch selber angewiesen hat, da er sprach: ‚Das Reich Gottes, das ist in euch!‘ Wer dieses Reich finden will – das ist Gott mit all seinem Reichtum –, der muss es da suchen, wo es ist: nämlich im innersten Grund, wo Gott dem Menschen näher und inwendiger ist, weit mehr als er sich selbst.“ (179)

Der Spruch Jesu bezieht sich also bei Lukas auf den Schatten, hier bei Markus bezieht er sich auf das Licht, das göttliche Licht, das Christuslicht, das in der Tiefe meiner Seele verborgen ist, verborgen wie das Licht unter dem Scheffel oder dem Bett.

Wiederum ist ein palästinisches Haus vorausgesetzt, das keine Fenster hatte. Es wurde durch Lampen erhellt. Dass man nun eine Öllampe anzündet und unter ein Getreidemass stellt, ist eigentlich absurd. Licht ist zum Leuchten da. Es gilt, es unter dem Scheffel hervorzuholen. Auch unser eigenes, inneres Licht, den göttlichen Funken im göttlichen Grund, der der Grund meiner Seele ist.

Der Weg in diese Einheitserfahrung hinein heisst in der christlichen spirituellen Tradition „Via illuminativa“, Weg der Erleuchtung, der Vergottung. Wobei, jedenfalls meiner Überzeugung nach, die Vergottung sich nie vollendet, jedenfalls hier unten auf Erden. Es bleibt immer eine Distanz, es bleibt das Gegenüber, das grosse DU.

Zu diesem Gedanken zitiert Margrit Wenk eine, wie mir scheint, interessante und wichtige Überlegung des Pallottiner-Paters und Zen-Lehrers Johannes Kopp (1927-2016). Kopp bezieht sich dabei auf ein Koan. Es ist, wie viele Koans, nicht ohne Humor:

„Eine Kuh geht durch ein vergittertes Fenster. Hörner, Kopf und die vier Beine sind schon durch. Warum kann ihr Schwanz nicht auch noch durchkommen?“

Kopp deutet das Koan so:

„Ein Schwänzchen Ich-Bewusstsein bleibt. Deshalb kann keine und keiner sagen: Ich bin da vollkommen durch. Wenn jemand das nicht sieht, ist das sein bzw. ihr blinder Fleck… Das Bewusstsein, dass das noch nicht Erreichte unendlich grösser ist als das Erreichte, ist eine … notwendige Weise von Dualität.“ (nach 101)

Interessant auch die Folgerung Kopps, dass er deshalb beten kann, zu einer Wirklichkeit, die unendlich viel grösser ist als ich und die mir als DU gegenübersteht. Ich kann um Erleuchtung, Vergottung, Einswerdung bitten. Doch die Behauptung, schon dort, in der Einheit zu sein – diese Behauptung wäre vermessen. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, uns hier auf Erden gleichsam schon in den Himmel zu katapultieren. Unsere Aufgabe als ist es, Himmel und Erde zu verbinden. Das meint der dritte Weg, die Via Unitiva, der Weg der Einung, Vereinung, Vereinigung…

Via Unitiva

Die Erleuchtungserfahrung gilt es zu inkarnieren, in Leib und Leben, hier unten auf Erden, im Alltag zu verwirklichen. Das ist der Weg, der in der christlich-spirituellen Tradition als „Via Unitiva“ beschrieben wird, als Weg der Vereinigung des grossen Ich-Bin und meines kleinen Ich.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, unseren Vers im Urtext anzuschauen. Dann zeigt sich, dass die Übersetzung der Zürcher Bibel hier ungenau ist. Dass sie das Unverständlich-Sperrige verständlich macht, ihm damit aber auch die Tiefe nimmt. Die genaue Übersetzung des Verses lautet:

„Es gibt nichts Verborgenes, ausser damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, ausser damit es ins Offenbare komme.“

Auch Eugen Drewermann schreibt, dass dieser Satz „offenbar hoffnungslos verwirrt“ sei. Er zieht die geglättete Version des Lukas vor, wo es auch im griechischen Urtext so heisst: „Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht … an den Tag kommt“. „Der entscheidende Punkt ist das ‚damit‘.

„So absurd“, schreibt Drewermann, kann es nicht geheissen haben“ (nach 341). Oder doch? Unter dem Gesichtspunkt der Via Unitiva scheint mir dieses „Damit“ tiefen Sinn zu gewinnen.

Um zu diesem Sinn zu gelangen, gilt es auszuschwingen zur grossen philosophischen Frage: „Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas?“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, deutscher Philosoph, 1854 in Bad Ragaz gestorben) Oder ins Theologische gewendet: Warum genügte sich Gott nicht selbst? Warum hat er die Schöpfung geschaffen?

Vielleicht, könnte man spekulieren, hatte er ja selber ein Interesse daran. Vielleicht ging es ihm um eine Ausweitung seines eigenen Erfahrungshorizonts. In diese Richtung gehen die Überlegungen, die Paul Tillich (1886-1965) im Anschluss an Schelling formuliert.

Tillich unterscheidet zwischen Essenz und Existenz. Die Essenz ist die Welt Gottes, aus der wir herkommen, in die wir zurückkehren. Die Existenz meint unser Dasein auf Erden. Dieses Erdendasein ist nicht ohne Bezug zur Essenz, zum Himmel. Vielmehr vollzieht sich eine dauernde „Essentifikation“, wie der zentrale Begriff von Schelling lautet: Existenz verwandelt sich in Essenz. Tillich beschreibt diesen Prozess so:

„Das Neue, das sich in Raum und Zeit verwirklicht hat, fügt dem essentiellen Sein etwas hinzu… Man könnte von einer ‚Anreicherung‘ des göttlichen Lebens durch die irdischen Prozesse sprechen. Dieser Gedanke gibt jeder Schöpfung in Raum und Zeit unendliches Gewicht.“ (nach 453)

Die Transformation dessen, was wir hier unten auf Erden leben und erleben in die Ewigkeit hinein vollzieht sich im Modus der Erinnerung. „Das Zeitliche“, schreibt Tillich, „wird in einem fortwährenden Prozess zu ‚ewiger Erinnerung‘“. All das, was wir hier unten erfahren, verlischt nicht, es geht nicht vergessen noch verloren. Es dient der „Anreicherung“ des göttlichen Gedächtnisses.

Und eben darum heisst es „damit“:

„Es gibt nichts Verborgenes, ausser damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, ausser damit es ins Offenbare komme.“

Das göttliche Licht hat sich gleichsam absichtlich unter dem Scheffel verkrochen – um dort Erfahrungen zu machen, die es im Licht nie und nimmer hätte machen können. Und in dem Ausmass, wie wir das Licht unter unserem je eigenen Scheffel hervorholen und auf unseren je eigenen Leuchter stellen, in dem Ausmass tragen wir in das göttliche Gedächtnis hinein das, was wir selber, jede und jeder von uns, völlig einzigartig der Einheit zu geben haben, „ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben“, heisst es im schönsten aller Weihnachtslieder, Paul Gerhardts „Ich steh an deiner Krippen hier“. Doch das, was mir gegeben worden ist, gebe ich verwandelt zurück, in der Transformation, die es erfahren hat in diesem meinem Scheffel, dieser meiner Existenz.

Das, glaube ich, ist es, was die Via Unitiva meint.

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Mein Leben wird also im Modus der Erinnerung aufgehoben, aufbewahrt, geborgen sein in den Händen Gotts, in die unsere Namen eingezeichnet sind seit Anbeginn der Welt. Es wird dort letztgültige Würdigung erfahren. Dieser wunderbare Gedanke hat einen Haken, nämlich das Böse oder, wie Tillich es nennt, das Negative. Noch einmal gilt es zu erinnern an das Jüngste Gericht, das ein Prozess des Scheidens ist:

„Das griechische Wort für richten (krinein: ‚trennen‘) weist deutlich auf den universalen Charakter des Gerichts als eines Aktes hin, in dem das Gute vom Bösen, das Wahre vom Falschen und die Angenommenen von den Verworfenen geschieden werden.“

Das klingt finster. Doch in der Deutung Tillichs wird es licht:

Unser Dasein auf Erden, die Existenz im Gegensatz zur Essenz zeichnet sich dadurch aus, dass sich dadurch aus, dass das rein Positive, die Essenz, das Seiende, sich mischt mit dem Negativen. Doch dieses Negative hat gar kein eigenes Sein; es bedient sich beim Positiven und tut so, als wäre es selber Positives.

Als Beispiele für dieses Negative, das sich vom Positiven nährt und selber so tut, als wäre es ein Positives, nennt Tillich „Krankheit, Tod, Lüge, Zerstörung, Mord und das Böse im allgemeinen“.

Im Anblick des Ewigen aber löst sich die Erscheinung des Bösen als ein Positives auf. Es verbrennt, wieder symbolisch gesprochen, im göttlichen Feuer, es wird, wie Tillich sagt, in sein nacktes Nicht-Sein geworfen. „Das ist die Seite der Verdammung in dem, was symbolisch als Jüngstes Gericht bezeichnet wird.“ (alles nach 450-453)

Das Negative verlöscht in der ewigen Erinnerung. Und doch bleibt es nicht ohne Wirkung auf diese: „Es bleibt in der ewigen Erinnerung als das gegenwärtig, was überwunden ist.“ Als Überwindung, Befreiung von Sünde, Hölle und Tod. Das ist es eben, was wir Menschenkinder und alle Wesen der Welt zurück hinein in die Essenz tragen werden und damit den Erfahrungshorizont Gottes erweitern. Es ist das, was wir mit unseren menschlichen Stimmen einst zum Lobgesang der Engel beitragen – etwas, was jene himmlischen Wesen nicht kennen, die Erfahrung, dass wir, wie es im Psalter heisst, durch Feuer und Wasser gegangen sind und dass DU, Gott, uns ins Weite geführt hast. (nach Bernhard von Clairvaux)

Manuskript eines im Oktober 2022 per Zoom gehaltenen Vortrags

„Vome sälber“: Meditation über Mk 4, 26-29 anlässlich einer Taizéfeier

Das folgende Gleichnis überliefert nur Markus. Man fragt sich, warum die anderen Synoptiker, Matthäus und Lukas, es nicht übernommen haben. Vielleicht ist dies der Grund:

In den anderen Gleichnissen gibt es jeweils Trennungen: zwischen der Saat, die Frucht bringt, und jener, die keine Frucht bringt. Zwischen Unkraut und Weizen. Usw.

In diesem Gleichnis ist es anders. Da gibt es keine Trennungen: Der Bauer sät, die Saat sprosst. That’s it.

Bevor irgendeine Trennung stattfindet, zwischen Erfolgreichen und Versagern, Gläubigen und Ungläubigen usw. --- lange vor jeder Trennung, im dunklen Mutterschoss, schlafend noch, bevor wir das Licht der Welt erblicken, sind wir geliebt, bedingungslos, „unabhängig von Rasse, Hautfarbe und Weltanschauung“, wie es im Gebet der Vereinten Nationen heisst.

Nicht undenkbar, dass diese Bedingungslosigkeit den Evangelisten Matthäus und Lukas nicht in den Kram passte. Wir auch immer ---

Hören wir aus Mk 4 die Verse 26-29 in einer Schweizerdeutschen Übersetzung:

Mit em Himmelriich isch es esoo, wie wänn en Puur de Saame uf d Erde streut. Dänn gaat er go schlaafe, dänn schtaat er wider uuf, Nacht und Taag. Und de Saame kiimet und wachst – wie das gaat, das wäiss de Puur sälber nööd. Vome sälber bringt d Erde Frucht… (Mk 4, 26-29)

„Von selbst bringt die Erde Frucht“, lautet also die Pointe des Gleichnisses. Mitten in einer Welt der Selbstoptimierung, des Enhencement, der Leistungs- und Effizienzsteigerung erinnert dieses Gleichnis an die Dimension des Nicht-Machbaren: Bevor wir irgendetwas machen, lange vorher, immer schon ist das Leben Geschenk.

Weiter heisst es im Gleichnis: Der Bauer weiss selbst nicht, wie die Erde Frucht bringt. In der Welt, in der wir leben, geht es darum, die Prozesse zu kontrollieren. Wir müssen wissen, was warum wie funktioniert. Doch der Bauer im Gleichnis weiss es nicht. Er verbringt einen grossen Teil seines Lebens schlafend.

Und noch etwas: Normalerweise sagen wir „Tag und Nacht“, im Gleichnis heisst es aber umgekehrt: „Nacht und Tag“, der Bauer schläft und steht auf, „Nacht und Tag“.

Diese Umkehrung ist nicht zufällig. Die Nacht steht vor dem Tag, so wie das Nicht-Wissen vor dem Wissen steht und das „Von selbst bringt die Erde Frucht“ vor dem „Ich kann und schaffe es selber“.

Dieses Gleichnis lehrt jenes Vertrauen, das Jesus gelebt hat – bis ins Sterben hinein, als er sagte: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“. „In manus tuas, Pater, commendo spirtum meum“.
Singen wir dieses Lied:

Lied: “In manus tuas, Pater” (30)

Text zum Schluss:


Wir hören zum Schluss Worte des mittelalterlichen Mönchs und Mystikers Heinrich Seuse. In ihnen kommen zwei Motive zusammen, die auch im Gleichnis Jesu bedeutsam sind: Das Nicht-Wissen und das Nicht-Tun – am Ort der „Unwissenheit“ gibt es „kein Streben noch Mühen“, sagt Seuse. Diesen Ort des Nicht-Wissens und Nicht-Tuns nennt Jesus das Reich Gottes, Seuse nennt ihn in mystischer Sprache den Abgrund der Einheit:

„Die Stille nimmt dem menschlichen Geist Bild und Form und alle Vielheit ab. Er gelangt in eine Unwissenheit seiner selbst und aller Dinge. Auf diese Weise wird er in den Abgrund der Einheit hineingetragen, wo er höchste Glückseligkeit erfährt. Dort gibt es kein Streben noch Mühen, denn Anfang und Ende sind eins geworden, und der Geist ist – sich selbst entsunken – eins mit dem göttlichen geworden.“ (nach 23)

Kaiseraugst, 16. September 2022

Das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4, 30-32): Predigt anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag

Einleitung:

Man kennt die Adventszeit vor Weihnachten und die Fasten- bzw. Passions-Zeit vor Ostern. Die SchöpfungsZeit im September ist weniger bekannt, doch umso aktueller:

„Der 1. September gilt der der Römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen als der Tag der Schöpfung. Der 4. Oktober ist der Gedenktag des Schöpfungsheiligen Franz von Assisi. Zwischen diesen beiden Daten liegt die SchöpfungsZeit – sie schliesst das Erntedankfest und den Bettag mit ein.“

So hören wir heute, am Bettag, ein Gleichnis, das Jesus tief aus der Schöpfung hervor holt:

Text (Mk 4, 30-32):

4, 30 Und er sprach: Wie sollen wir das Reich Gottes abbilden? In welchem Gleichnis sollen wir es darstellen? 31 Es ist wie ein Senfkorn, das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden, das in die Erde gesät wird. 32 Ist es gesät, geht es auf und wird grösser als alle anderen Gewächse und treibt so grosse Zweige, dass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.


Predigt:

Was antwortet man, wenn man gefragt wird, wie man sich das Himmelreich vorstellt?

Die meisten, die ich in den letzten Tagen mit dieser Frage konfrontierte, sagten, das sei ein Geheimnis. Das könne man sich nicht vorstellen, dazu lasse sich nichts sagen.

In einem der rätselhaftesten, faszinierendsten Texte der Bibel deutet der Apostel Paulus an, er sei in den dritten Himmel, ins Paradies entrückt worden und habe dort unsagbare Worte gehört, die kein Mensch aussprechen dürfe.

Man sagt, im Himmelreich seien ewiger Friede und ewige Freude. Die himmlischen Chöre sängen überirdisch schön. Und ennet des Tunnels leuchte ein überlichtes Licht.

Doch Jesus, ausgerechnet er,

• von dem es heisst, er sei von göttlichem Wesen,
• sei Licht vom unerschaffnen Lichte, das vom Himmel hoch herkommt in die Niedrigkeit der irdischen Existenz,
• er, der eingeborene Sohn Gottes, der als einziger wissen müsste, wie es ausschaut dort oben, dort drüben –

er erzählt von alledem nichts.

Vielmehr vergleicht er das Himmelreich mit einem Samenkorn.

Oder, bei anderer Gelegenheit, mit einem Stück Hefe, einem Fischernetz, mit einem verlorenen Schaf, einem verlorenen Geldstück.

Das Inventar der Geschichten, die Jesus erzählt, stammt aus der einfachen Welt der Fischer und Bauern Galiläas.

Diese Zuneigung zum Alltäglichen ist gleichsam die Trift der Gleichnisse. Sie erzählen von der Zuwendung des Himmels zur Erde.

Das Himmelreich ist demnach nicht irgendwann am Ende der Zeit irgendwo in einer fernen Welt zu lokalisieren. Das Himmelreich ist DA, gegenwärtig, präsent, in uns und mitten unter uns.

Wem die Augen dafür aufgehen, der geht staunend durch die Welt – gleichsam wie die Kinder, von denen Jesus gesagt hat, ihnen gehöre das Himmelreich. Man gewinnt eine unmittelbare, unverstellte, neue und offene Sicht auf die Welt.

Überall entdeckt man jene Wirklichkeit, in einem vom jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber überlieferten chassidischen Lied wird diese Wirklichkeit so besungen:

"Wo ich gehe - du!
Wo ich stehe - du!
… Ergeht‘s mir gut - du!
Wenn's weh mir tut - du!

Himmel - du, Erde - du,
Oben - du, unten - du,
Wohin ich mich wende, an jedem Ende
Nur du, wieder du, immer du!
Du, du, du!"

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Des grosse Schweizer Theologe Leonard Ragaz (1868-1945) hat ein interessantes Buch geschrieben mit dem Titel: „Die Gleichnisse Jesu“.

Das Buch beginnt mit der Bemerkung:

„Nichts scheint unnötiger zu sein als eine Erklärung der Gleichnisse Jesu… Sie erklären sich jedem Kinde, und dem Kinde sogar am leichtesten“ –

eben: die Kinder, denen das Himmelreich gehört, die eine offene Sicht auf die Welt haben – sie haben auch einen unverstellten Zugang zu den Gleichnissen.

Doch dann fährt Ragaz fort:

„Die Gefahr besteht und hat sich nur zu sehr verwirklicht, dass man sie (die Gleichnisse) zu stark bloss den Kindern überlässt.“

Die Gleichnisse werden dann volkstümlich-idyllisch, sie werden harmlos, das Kindliche rutscht ab ins Kitschige. Und die Gleichnisse verlieren ihre prophetische Kraft.

In Wahrheit aber gilt gemäss Ragaz:

Die Gleichnisse sind „die tiefste und radikalste Umwälzung der Welt: nämlich die Umwälzung der Welt durch Gott.“

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Lesen wir das Gleichnis also noch einmal, gleichsam aus der prophetischen Perspektive von Leonard Ragaz:

Das Senfkorn galt in der Antike als das sprichwörtlich kleinste Samenkorn. Der Same des schwarzen Senfs hat gerade mal einen Durchmesser von ca. 1 mm und ein Gewicht von gerade mal 1 mg.

Dieses Korn soll gemäss dem Gleichnis nun auswachsen zu einem Baum, in dessen Zweigen die Vögel nisten.

Die Senfstaude wächst in Wirklichkeit aber nur etwa in eine Höhe von 1.5 m, bei idealen klimatischen Bedingungen können es 2.5 m sein.

Man könnte also zurecht sagen: Jesus übertreibt. Doch diese Übertreibung beruht nicht auf botanischer Unkenntnis. Sondern auf Bibelkenntnis:

Der Baum, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten, das ist in der Bibel der mythische Weltenbaum. Beim Propheten Daniel zum Beispiel heisst es von diesem Baum:

„Ich schaute, und sieh, ein Baum, im Mittelpunkt der Welt, und seine Grösse war gewaltig! Der Baum wuchs und wurde stark: Sein Wipfel reichte bis an den Himmel und seine Krone bis ans Ende der ganzen Erde. Seine Blätter waren schön, und er trug reiche Frucht, und Nahrung war an ihm für alle. Die Tiere des Feldes suchten Schutz unter ihm, und in seinen Zweigen wohnten die Vögel des Himmels, und von ihm ernährte sich alles Fleisch.“ (Dan. 4, 7-9)

Aus dem sprichwörtlich kleinsten Samen wird also nicht nur eine stattliche Staude, sondern der mythische Weltenbaum, der bis an den Himmel und bis an die Enden der Erde reicht.

Leonard Ragaz sieht in dieser Spannung zwischen Senfsamen und Weltenbaum „eine Grundordnung Gottes“. Er sagt:

„Es ist geradezu eine Grundordnung Gottes: Alles, was gross werden soll, muss klein beginnen."

Wie sich diese „Grundordnung Gottes“ nach Ansicht von Leonard Ragaz konkretisiert, zeigt sich zunächst an Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger:

Das waren „einige weltlich kleine Menschen in einem unbekannten oder verachteten Winkel des römischen Weltreichs. Und doch ist ihre Sache sehr viel grösser geworden als das römische Weltreich.“

Hier, bei Jesus, hat sich also die Grundordnung exemplarisch gezeigt. Sie zeigt sich noch heute:

Wenn wir Landeskirchen, wie die Soziologen prognostizieren, „kleiner, älter und ärmer“ werden, dann ist das, wer weiss, ganz im Sinn des Reiches Gottes. Das Wachstum des Reiches Gottes ist möglicherweise kein lineares, sondern ein paradoxes. Je kleiner wir sind, desto grösser sind wir. Und je ärmer wir werden, desto reicher werden wir sein.

Der entscheidende Punkt, folgert Ragaz aus diesem paradoxen Prinzip, sind die Methoden: Wir dürfen unsere Methoden nicht ausrichten auf das, was Erfolg genannt wird. Ragaz sagt (und wird dabei beissend ironisch):

In dieser Welt „fängt man gross an. Je grösser man anfängt, denkt man, desto grösser wird der Erfolg sein. Aber die Wahrheit ist genau umgekehrt. Wenn man eine Sache, die geistiger Art ist, von vornherein dem baldigen Verwelken und Zerfallen weihen will, dann muss man nur recht gross und prächtig anfangen. Etwa mit viel Geld, viel Reklame, viel Empfehlung von 'Prominenten' und viel offizieller Protektion… Dann wird sich bald die Fäulnis einstellen..."

Fortschreitende Fäulnis hinzuweisen – in der Finanzwelt, in der Politik, auch in der Kirche.
Dass aus dem Kleinsten das Grösste wird, das macht einen nachdenklich in Bezug auf das, was wirklich zählt. Leonard Ragaz sagt, es gelte vor allem „auf eins zu achten: auf die Anfänge:

„Die Anfänge vor allem sollen rein gehalten werden. Sie müssen und sollen nicht gross sein, aber sie müssen und sollen rein sein. Soweit das nur menschenmöglich ist… Sie müssen so sein, dass darin heilige Kräfte aufgespeichert sind, aus denen die Sache immer wieder schöpfen darf, wenn sie matt und schwach zu werden droht.“

Und dann, sehr schön, zitiert Leonard Ragaz einen Grossen der Geistesgeschichte, der vor Jesus Christus, ausserhalb des christlichen Kulturkreises gelebt und gewirkt hat, aber nicht ausserhalb des Himmelreiches:

Der chinesische Weise Laotse hat gesagt, es gelte, die „Keime“ zu beachten, zu hüten. Hüter und Hüterinnen der Keime zu sein – Keime in meiner Seele, Keime in der Kirche, Keime in der Welt –, das ist unsere Aufgabe hier unten auf Erden. Bei unserem „Hütedienst“ behüte uns Gott! Amen.

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Der Baum, der aus dem Keim erwächst, ist kosmisch gross. Dazu passt die Musik, die wir nun hören. Der zeitgenössische estnische Komponist Urmas Sisask, habe ich mir sagen lassen, beziehe seine Inspiration wesentlich aus der Astronomie. Die „kosmische Harmonie“ sei ein wiederkehrendes Thema… Wir hören „Surrexit“, einen Auferstehungsgesang von Urmas Sisask, vorgetragen von der Vox Raurica…

Kaiseraugst, Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag, 18. September 2022

Der Mann, der aus den Gräbern stieg: Predigt über den Besessenen von Gerasa (Mk 5, 1-20)

Einleitung

Heute befassen wir uns mit der merkwürdigsten, am ausführlichsten erzählten, buntesten ausgemalten Wundergeschichte der ganzen Bibel, der Geschichte des Besessenen von Gerasa (Mk 5, 1-20).

Es gibt darin Elemente, die übertrieben und dadurch grotesk-komisch wirken. Das hat manche Fachleute zu einer Vermutung geführt, die mir gut gefällt: Hinter der Geschichte stehe ursprünglich einen deftiger, burlesker Schwank, der vom prahlenden Satan handelt, der dann übertölpelt wird.

Ich habe diese Schwank-These unserem Kaiseraugster Psychotherapeuten Christoph Frutiger erzählt. Er hat darauf nachdenklich-kritisch reagiert. Er hat mir Folgendes geschrieben, mit der Erlaubnis, es zu zitieren:

„Ich sehe darin nicht nur eine schwankige Geschichte über einen prahlenden Satan, sondern auch viel Tiefe und Tragik. Im psychotherapeutischen Kontext erlebe ich es immer wieder (z.B. in Gesprächen mit der IV), dass tragische Situationen als Schwank um einen “prahlenden Satan” abgetan werden. Menschen mit starken psychischen Störungen sind von aussen gesehen oft so grotesk, dass es viele Menschen gar nicht so ernst nehmen können. Über die Leute und ihre Geschichten wird gelacht. Ihre übertrieben anmutenden Handlungen (wie schreien, sich Haare ausreissen, sich selbst verletzen) werden als symbolisch, bewusst zu manipulativen Zwecken gesteuerte Handlungen oder unerklärliches wirres Zeug abgetan. Dabei steckt viel Schmerz und tiefes Leid dahinter.“

Es gilt also, das, was in dieser Geschichte erzählt wird, tief ernst zu nehmen. Es geht hier nicht um einen Sketch an den Fotzelschnitte. Es geht um die Heilung, das Heimkommen einer verlorenen Seele.

Hören wir die Geschichte:

Text: Der Besessene von Gerasa (Mk 5, 1-20)

5, 1 Und sie kamen ans andere Ufer des Sees in das Gebiet der Gerasener. 2 Und kaum war er aus dem Boot gestiegen, lief ihm sogleich von den Gräbern her einer mit einem unreinen Geist über den Weg. 3 Der hauste in den Grabhöhlen, und niemand mehr vermochte ihn zu fesseln, auch nicht mit einer Kette. 4 Denn oft war er in Fussfesseln und Ketten gelegt worden, doch er hatte die Ketten zerrissen und die Fussfesseln zerrieben, und niemand war stark genug, ihn zu bändigen. 5 Und die ganze Zeit, Tag und Nacht, schrie er in den Grabhöhlen und auf den Bergen herum und schlug sich mit Steinen.

6 Und als er Jesus von weitem sah, lief er auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder 7 und schrie mit lauter Stimme: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! 8 Er hatte nämlich zu ihm gesagt: Fahr aus, unreiner Geist, aus dem Menschen! 9 Und er fragte ihn: Wie heisst du? Und er sagt zu ihm: Legion heisse ich, denn wir sind viele. 10 Und sie flehten ihn an, sie nicht aus der Gegend zu vertreiben. 11 Nun weidete dort am Berg eine grosse Schweineherde. 12 Da baten sie ihn: Schick uns in die Schweine, lass uns in sie fahren! 13 Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Schweine. Und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter in den See, an die zweitausend, und sie ertranken im See.

14 Und ihre Hirten ergriffen die Flucht und erzählten es in der Stadt und auf den Gehöften. Und die Leute kamen, um zu sehen, was geschehen war. 15 Und sie kommen zu Jesus und sehen den Besessenen dasitzen, bekleidet und bei Sinnen, ihn, der die Legion gehabt hat. Da fürchteten sie sich. 16 Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, wie es dem Besessenen ergangen war, und die Sache mit den Schweinen. 17 Da baten sie ihn immer dringlicher, aus ihrem Gebiet wegzuziehen.

18 Und als er ins Boot stieg, bat ihn der Besessene, bei ihm bleiben zu dürfen. 19 Aber er liess es nicht zu, sondern sagt zu ihm: Geh nach Hause zu den Deinen und erzähle ihnen, was der Herr mit dir gemacht hat und dass er Erbarmen hatte mit dir. 20 Und der ging weg und fing an, in der Dekapolis kundzutun, was Jesus mit ihm gemacht hatte. Und alle staunten.


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Die Geschichte hat, wie alle Wundergeschichten, drei Teile:

• Eine Exposition, bei der die Hauptfiguren in Erscheinung treten.
• Ein Zentrum, in dem die Heilung geschieht.
• Und schliesslich werden die verschiedenen Reaktionen erzählt, die die Wunderheilung auslöst, in unserer Geschichte jene der Dorfbewohner und jene des Geheilten.

Die Predigt wird dreiteilig sein, entsprechend diesem Muster von Exposition / Zentrum / Reaktionen. Jeder der drei Teile wird mit einem Teil aus einer Pavane des französischen Komponisten Maurice Ravel ausklingen.

Diese Pavane wurde später berühmt, Ravel schaffte mit ihr den internationalen Durchbruch als Komponist. Doch anfangs sagten die Musikkritiker, das Werk sei zu „anarchistisch“ (nach Wikipedia). Gerade so passt es zu der anarchistischen Gestalt, der wir heute begegnen.

Ganz am Anfang der Geschichte überquert Jesus den See (V. 1). Am Schluss kehrt er wieder zurück auf die andere Seite des Ufers. Dieses Überqueren symbolisiert einen psychischer Übergang: Wir gehen hinein in Bereiche, die dem Alltagsbewusstsein verschlossen sind. Vermutlich bedarf das Alltagsbewusstsein dieser Verschlossenheit. Sonst würde es nicht mehr funktionieren. Der, der da drüben auftaucht aus den Gräbern, dieser Mann ist definitiv dysfunktional…

Singen wir, bevor wir ihm begegnen, das wunderbare Vertrauenslied des Schweizer Pfarrers und Religionswissenschaftlers Georg Schmid: „Wir wären von Feinden umlauert uns selbst der gefährlichste Feind“ heisst es darin. Und umrahmt sind diese Abgründe von den Worten: „Geborgen, geliebt und gesegnet, gehalten, getragen, geführt“

Lied: „Geborgen, geliebt und gesegnet“ (39, 1-6)

Predigt I


Hören wir aus dem ersten Teil noch einmal die Verse 3-5:

3 Er hauste in den Grabhöhlen, und niemand mehr vermochte ihn zu fesseln, auch nicht mit einer Kette. 4 Denn oft war er in Fussfesseln und Ketten gelegt worden, doch er hatte die Ketten zerrissen und die Fussfesseln zerrieben, und niemand war stark genug, ihn zu bändigen. 5 Und die ganze Zeit, Tag und Nacht, schrie er in den Grabhöhlen und auf den Bergen herum und schlug sich mit Steinen.

Es sind zwei Motive, die da dichtgedrängt mehrfach vorkommen: Das der „Gräber“ und das der „Fesseln“. Zwischen beiden Motiven besteht eine innere Verbindung. Die „Gräber“ symbolisieren die seelische Befindlichkeit des Geraseners, die „Fesseln“ symbolisieren das, was sein Umfeld, seine Mitmenschen damit zu tun haben.

Zu ersterem, der Befindlichkeit des Geraseners, schreibt Christoph Folgendes:

„Dieser Mensch hat Schreckliches erlebt in seiner Geschichte, zu viel, um damit klar zu kommen. Die Seele versucht verzweifelt, sich zu schützen, um in einem furchtbaren Umfeld irgendwie überleben zu können. Sie beginnt, eigene Anteile abzuspalten, …. Diese entwickeln ein Eigenleben, … die Person verliert sich gänzlich in der Wut, der Verzweiflung, dem Nacherleben eines traumatischen Ereignisses, wie wenn es nur noch das geben würde. Dissoziation nennt sich das.“

In Bezug auf unseren Gerasener vermutet die Forschung, dass die bösen Geister, die diesen Mann besetzen, Totengeister sind, die in den Gräbern gefallener Widerstandskämpfer hausen und nicht zur Ruhe kommen. Er selber war ein solcher Widerstandskämpfer, seine Seele war zerbrochen an den römischen Legionen, die nun wie ein Dämon auf seiner Seele hocken.

Soviel zum Motiv der „Gräber“. Nun folgen die „Fesseln“, welche das Umfeld des Geraseners symbolisieren. Dazu schreibt Christoph:

"Das Umfeld – wir, die Mitmenschen bezeichnen diese Leute dann als gestört, spinnend, ver-rückt, grenzen sie aus. Gerade die, die unseren Schutz am meisten brauchen würden, müssen in den Grabhöhlen leben, weil wir ihr Geschrei der Verzweiflung nicht verstehen und nicht aushalten."

Ich verstehe sie alle, die dieses Geschrei der Verzweiflung nicht aushalten. Ich gehöre selber zu ihnen. Nichtsdestotrotz: Ich bin part of the game. Ich bin Teil des Spiels. Der Gerasener ist Teil meiner Seele. Es geht nicht an zu sagen: Ich bin gesund, und jener ist krank. Wir sind, in der Tiefe der Seele, eins. Wir, er und ich, haben eine gemeinsame Geschichte. Spüren wir ihr nach, wenn die Worte nun nachklingen in der „anarchistischen“ Musik von Ravel…

Musik

Predigt II


Gehen wir weiter zum Teil zwei, dem Zentrum:

6 Und als er Jesus von weitem sah, lief er auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder 7 und schrie mit lauter Stimme: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! 8 Er hatte nämlich zu ihm gesagt: Fahr aus, unreiner Geist, aus dem Menschen! 9 Und er fragte ihn: Wie heisst du? Und er sagt zu ihm: Legion heisse ich, denn wir sind viele. 10 Und sie flehten ihn an, sie nicht aus der Gegend zu vertreiben. 11 Nun weidete dort am Berg eine grosse Schweineherde. 12 Da baten sie ihn: Schick uns in die Schweine, lass uns in sie fahren! 13 Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Schweine. Und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter in den See, an die zweitausend, und sie ertranken im See.

Legion heisst der Dämon, „denn wir sind viele“. Und tatsächlich gäbe es viel zu sagen zu diesem Abschnitt. Konzentrieren wir uns, im Anschluss an Christoph Frutiger, auf drei Punkte: den Widerstand, die Externalisierung und den Humor.

Beginnen wir mit dem Widerstand. „Und dann kommt Jesus“, schreibt Christoph. „Er läuft nicht weg, er grenzt nicht aus. – Und was passiert?“

„Der «Verrückte» bekommt Angst. Das ist etwas, was ich in der Therapie oft erlebe. Die Menschen, die seelisch so leiden, halten sich und ihr Leid selbst nicht aus, es ist so schrecklich, dass sie selbst wegschauen, sich ablenken mit allen Mitteln, Medikamenten, Drogen, Alkohol, sich von sich selbst entfernen, um nicht zu spüren, wie schrecklich sie sich fühlen.
Und wenn dann jemand von aussen genau hinschaut, sie wahrnimmt in ihrem Leid, beginnen sie selbst auch wieder zu spüren. Das schmerzt schrecklich und versetzt die Leidenden selbst in Angst und Schrecken.“

Der Dämon, der sagt: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus?“, ist also ein Symbol für diese eigene, innere Stimme, die sagt: „Lass mich in Ruhe! Quäle mich nicht mit meinem eigenen Leid!“

Heilung bringt das, was man in der Psychotherapie „Externalisierung“ nennt, also die Betrachtung von aussen. Christoph beschreibt dieses zweite Stichwort so:

„Die Externalisierung gibt uns Spielraum, uns zu verändern, uns von den ‚Dämonen‘ zu lösen.“

Von aussen betrachtet, wird alles irgendwie leichter, lustiger auch. Und das führt uns direkt zum dritten Stichwort, dem Humor:

„Dann kommt der Schwank mit den Schweinen. Eine lustige Wendung, die uns zum Schmunzeln bringt. Das ist eines der Elemente, weshalb ich meinen Beruf so liebe. Die Möglichkeit, im entscheidenden Moment der Situation eine Wende zu geben, die die ganze Tragik dahin schmelzen lässt. Oder trotz der Tragik die lustigen Elemente der Situation zu erkennen, was uns alles leichter nehmen lässt. Die Psychotherapie arbeitet oft mit solchen Elementen: Wenn die Angst eine Stimme hätte, wie würde sie klingen? …“

Und weiter, noch konkreter:

„Wie ernst würden Sie die Stimme nehmen, wenn sie bloss in Unterhosen dastehen würde? Interessanterweise können sich das viele Menschen so lebendig vorstellen, dass es wirklich etwas verändert. Menschen, die ins Burnout kamen, weil eine innere Stimme sie antrieb, ihnen sagte, sie müssten mehr arbeiten, sie hätten nicht das Recht zu geniessen, können es plötzlich ruhig angehen, weil eine Stimme in gepunkteten Unterhosen irgendwie nicht mehr so viel bewirkt.“

Am Schluss sind da gepunktete Unterhosen. Sie haben heilende Kraft – auch für mich selber. Ich stelle mir vor, diese innere Stimme, die sagt, ich sei extrem wichtig und müsse darum viel, ganzganzganz viel chrampfen – diese Stimme stehe da in gepunkteten Unterhosen. Und dann ist endlich Zeit für chli Musik von Ravel…

Musik

Predigt III


Abschliessend geht es um die Reaktion der Hirten, der Dorfbewohner und des Geraseners selbst:

14 Und ihre Hirten ergriffen die Flucht und erzählten es in der Stadt und auf den Gehöften. Und die Leute kamen, um zu sehen, was geschehen war. 15 Und sie kommen zu Jesus und sehen den Besessenen dasitzen, bekleidet und bei Sinnen, ihn, der die Legion gehabt hat. Da fürchteten sie sich. 16 Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, wie es dem Besessenen ergangen war, und die Sache mit den Schweinen. 17 Da baten sie ihn immer dringlicher, aus ihrem Gebiet wegzuziehen.

18 Und als er ins Boot stieg, bat ihn der Besessene, bei ihm bleiben zu dürfen. 19 Aber er liess es nicht zu, sondern sagt zu ihm: Geh nach Hause zu den Deinen und erzähle ihnen, was der Herr mit dir gemacht hat und dass er Erbarmen hatte mit dir. 20 Und der ging weg und fing an, in der Dekapolis kundzutun, was Jesus mit ihm gemacht hatte. Und alle staunten.


Es ist merkwürdig: Jesus hat diesen Verrückten, der in den Grabhöhlen von Gerasa herumirrt, geheilt. Er ist nicht mehr nackt, sondern bekleidet, und er schreit nicht mehr herum, sondern redet völlig vernünftig.

Doch statt Jesus zu danken, dass er ein Problem gelöst hat, das auch eines der Mitmenschen des Geraseners war – statt ihm zu danken, bitten sie ihn „immer inständiger“, aus dem Gebiet wegzuziehen – ähnlich wie zuvor der Dämon, der Jesus anschrie: „Was habe ich mit dir zu schaffen?“

Christoph hat für dieses seltsame Verhalten eine einleuchtende psychologische Erklärung:

„Es ist nicht nur für den Betroffenen selbst schwer, mit der Veränderung umzugehen. Auch die umstehenden, die Leute aus dem Dorf, beginnen sich zu fürchten. Dinge, die immer so waren, kommen ins Wanken. Jesus nimmt ihnen nicht nur die Schweine weg, er nimmt ihnen auch den Dorftrottel und damit die Sicherheit, dass alles so bleibt, wie sie es gewohnt sind.

Einer der das kann, was kann der noch? Was wird er als nächstes verändern? Festgefahrene Weltbilder geraten ins Wanken. Wir müssen fürchten, dass die Welt aus den Fugen gerät. Und das (selbst wenn sich die Welt dadurch zum Guten entwickelt) ist etwas vom Gefährlichsten für den Menschen, das es gibt. Wenn Menschen auswählen können, das bekannte Leid zu behalten oder im Unbekannten vielleicht Erlösung und Freude zu finden, wählen die meisten das bekannte Leid. Wir lieben – ja, wir brauchen die Sicherheit und Stabilität eines bekannten Alltags. Wir behalten unsere Übel, weil wir das Unbekannte, Unberechenbare fürchten.“

Es ist dies der Ruf der Bibel von allem Anfang an, seit Gott zu Abraham sagte: „Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12, 1) – es ist der Ruf ins Unbekannte, Unberechenbare, nicht Versicherbare. Auch das Markusevangelium beginnt so – mit dem Ruf an Andreas, den Fischer und seine Freunde, die Fischernetze zu verlassen und mit Jesus aufzubrechen. Wohin der Weg führt, wissen sie nicht.

Doch nun, in unserer Geschichte, geschieht etwas Seltsames: Der Gerasener ist bereit aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen, mit Jesus zu gehen. Und dieser --- verbietet es ihm. Auch für dieses merkwürdige Verbot gibt Christoph eine einleuchtende psychologische Erklärung:

„Therapeutisch gesehen kann ich es gut nachvollziehen. Nicht Jesus hat geheilt, sondern Gott. Und weil Gott in jedem von uns ist, hat der Gerasener sich in gewissem Sinn selbst geheilt. Es geht nicht darum, einem Idol/Therapeuten/Heiler hinterherzulaufen, es geht darum, selbst weiter zu geben, was man erlebt hat, gleichsam selbst zu einem Jesus zu werden.“

Christförmig zu werden, sagt man dem in der christlichen Mystik: Ganz transparent, ganz durchlässig werden für Gott. Man wird dann selber zum Heiler, zum geheilten Heiler.

Das, glaube ich, ist die tiefste Botschaft unserer Geschichte: Ich bin selber dieser Gerasener. Meine zersplitterte, zerrissene, in tausend Teile vergheite Seele formt sich in Gott zu neuer Ganzheit. Ich steige aus den Grabhöhlen meines eigenen abgespaltenen, ungelebten Lebens, steige auf in die unbegrenzte Lebendigkeit, ins göttliche Licht, das fortan durch mich leuchtet, auch durch mich, als heilende, befreiende Kraft.

Auf unserem je eigenen Auferstehungsweg bhüet eus Gott!

Musik

Kaiseraugst, 11. September 2022

Noch einmal: Der Mann, der aus den Gräbern stieg: Vortrag über den Besessenen von Gerasa (Mk 5, 1-20)

Es gibt bei den Evangelien eine Auffälligkeit, die bei den poetischen Texten des Alten Testaments, mit denen wir uns in letzter Zeit befasst hatten, keine grosse Rolle spielt: Die Texte der Evangelien sind, hat man den Eindruck, nicht aus einem Guss geschrieben, es keine in sich geschlossenen poetischen Kunstwerke. Sie enthalten Ungereimtheiten, die Vorstufen mündlicher und eventuell auch schriftlicher Art vermuten lassen.

Entsprechend unterscheidet man bei der Auslegung methodisch zwischen einer diachronen und einer synchronen Herangehensweise. „Diachron“ bedeutet, dass man versucht, Vorstufen des vorliegenden Textes zu eruieren, ein manchmal spekulatives, zuweilen langweiliges, zuweilen aber auch interessantes Unterfangen. „Synchron“ bedeutet, dass man den Text in seiner vorliegenden Gestalt erschliesst.

Beim „Besessenen von Gerasa“ gibt es Fachleute, die dahinter einen deftigen, burlesken Schwank, der vom prahlenden Satan handelt, der dann übertölpelt wird.

Und tatsächlich hat die Erzählung Züge, die übertrieben und dadurch humorvoll-komisch wirken: Die Selbstbezeichnung des Dämons mit dem Fremdwort „Legion“ (was die grösste militärische Einheit der römischen Besatzungsmacht meint), die Beschwörung des „Sohns des höchsten Gottes“ „bei Gott“ (!), ihn, den Dämon, nicht zu foltern. Der suizidale Sturz von zweitausend Schweinen ins Meer.

Diese komischen Elemente werden uns später noch einmal beschäftigen. Ob sie wirklich auf ein hinter der Geschichte liegendes Teufels-Märchen verweisen, bleibt Spekulation – eine, die ich persönlich reizvoll finde.

Weiter gibt es in der Geschichte ein paar Ungereimtheiten, zum Beispiel die seltsamen Nachträge in V. 8 und V. 16:

„Er hatte nämlich zu ihm gesagt: Fahr aus, unreiner Geist, aus dem Menschen!“

„Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, wie es dem Besessenen ergangen war, und die Sache mit den Schweinen.“


„Die Sache mit den Schweinen“, wird in der Forschung vermutet, sei ein Nachtrag in eine Geschichte, die den ganzen Part mit den Schweinen ursprünglich gar nicht enthielt. Gemäss Eduard Schweizer stand am Anfang „eine einfachere Erzählung von einer Austreibung“, die ungefähr so ausgesehen hat:

Ein Kranker auf Jesus zu (V. 1f.), der Dämon wehrt sich (V. 7), Jesus antwortet (V. 8, mit der Einleitung: „Er sagte zu ihm…“), der Dämon fährt aus, die Schweinehirten reagieren in irgendeiner Weise erschüttert.

Zu dieser Skizze der ursprünglichen Geschichte passt, dass „Gerasa“ gar nicht am See Genezareth liegt, sondern über 55km südöstlich davon. Der Schweinsgalopp ins Meer hätte ziemlich weit sein müssen.

Was da erzählt wird im Markusevangelium, ist also offenbar kein historischer Bericht. Es geht nicht darum, uns zu informieren über etwas, was vor zweitausend Jahren an einem Ort, der Gerasa hiess, vielleicht aber auch Gadara oder Gergesa (die Quellen sind da nicht eindeutig), geschehen ist oder vielleicht auch nicht geschehen ist. Die Geschichte, wenn sie für uns eine Bedeutung haben soll, muss als Geschichte interessieren, als Literatur, die berührt.

Wobei der Begriff „Literatur“ vielleicht nicht passt, insofern der Text, mit dem wir uns hier befassen, offenbar nicht aus einem Guss geschrieben ist. Er hat, wie angedeutet, Tiefenschichten, alte Sagenmotive, erzählerische, vielleicht mündlich überlieferte, vielleicht schon verschriftlichte Vorstufen, sie tauchen auf aus dem Unbekannten und sinken wieder dorthin zurück. Manches davon können wir vermuten, vielleicht sogar belegen, vieles, das meiste bleibt Spekulation.

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Dem literarkritischen Abtauchen und Wiederauftauchen entspricht ein seelischer Prozess:

Zu Beginn der Geschichte überquert Jesus den See (V. 1). Ganz am Schluss kehrt er wieder zurück auf die andere Seite des Ufers. Dieses Überqueren symbolisiert eine psychischer Übergang: Wir gehen hinein in Bereiche, die dem Alltagsbewusstsein verschlossen sind. Vermutlich bedarf das Alltagsbewusstsein dieser Verschlossenheit. Sonst würde es nicht mehr funktionieren. Der, der da drüben auftaucht aus den Gräbern, dieser Mann ist definitiv dysfunktional…

Die Geschichte ist dreiteilig. Sie hat in den V. 2-5 eine Exposition. Dann folgt das Zentrum: Die Auseinandersetzung mit dem Dämon in den Versen 6-13. Und schliesslich werden in den Versen 14-20 die verschiedenen Reaktionen erzählt, jene der Schweinehirten und Bewohner der Gegend (14-17) und jene des vom Dämon Erlösten (18-20). Alle drei Teile sind sehr ausführlich dargestellt. Es handelt sich hier für den Heiler Jesus offenbar um einen besonders komplizierten Fall.

Die Grundstruktur der Dreiteiligkeit aber ist eingehalten – sie ist ein literarisches Merkmal, das alle Wundererzählungen (Heilungsgeschichten (Therapien) und Dämonenaustreibungen (Exorzismen)) miteinander verbindet. Diese literaturwissenschaftliche Beobachtung macht noch einmal deutlich, was ich zuvor schon erwähnt habe: Es geht hier nicht um historische Berichte, es geht um sagenhafte Geschichten.

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Wenden wir uns den drei Abschnitten einzeln zu.

Im ersten Abschnitt wird die Befindlichkeit des Manns mit dem unreinen Geist, der Jesus von den Gräbern her entgegenläuft, in einem ausführlichen Exkurs geschildert.

Hören wir noch einmal die Verse 3-5:

3 Er hauste in den Grabhöhlen, und niemand mehr vermochte ihn zu fesseln, auch nicht mit einer Kette. 4 Denn oft war er in Fussfesseln und Ketten gelegt worden, doch er hatte die Ketten zerrissen und die Fussfesseln zerrieben, und niemand war stark genug, ihn zu bändigen. 5 Und die ganze Zeit, Tag und Nacht, schrie er in den Grabhöhlen und auf den Bergen herum und schlug sich mit Steinen.

Man hat subtil beobachtet, dass hier eine kleine „Ringkomposition“ vorliegt. Sie erinnert an die „Cercle de l’enfer“, als welche Albert Camus die Grachten von Amsterdam beschrieben hat. Die Ringe führen weiter, immer weiter in die Abgründe hinein. Da sind die Gräber im Vers 3. Sie erscheinen wieder im letzten, dem fünften Vers und bilden den äusseren Ring. Im mittleren Ring, in den Versen 3 und 4, wird erwähnt, dass niemand den Gerasener zu binden und bändigen vermag. Und in der Mitte, im V. 4, ist zweimal von den Hand- und Fussfesseln die Rede.

Die Ringkomposition ist kunstvoll gestaltet, doch es geht dabei nicht um blosse „art pour l’art“. Vielmehr besteht zwischen den in der „Ringkomposition“ kombinierten Motiven – „Gräber“ und „Fesseln“ – auch eine innere Verbindung. Eugen Drewermann schreibt:

„Es gibt Augenblicke der Verzweiflung, wo das Leben wie verschwistert mit dem Tod erscheint und man sich selbst wie etwas innerlich Verwestes und Verfaultes den anderen kaum noch zumuten möchte.“ (361)

Das wäre das Motiv der „Gräber“. Nun folgen die „Fesseln“:

„In seiner Angst erlebt er alle Menschen einzig wie drohende Zwinghalter und Einschnürer seiner Freiheit, gegen die er sich wehren zu müssen glaubt. Dieser allen anderen Unverständliche, dieser eben deswegen für ‚besessen‘ Gehaltene, erlebt jeden anderen, der in seine Nähe kommt, nur als Kettenträger und Fesselbringer.“ (ebd.)

Diese Wahrnehmung, dass die anderen „Kettenträger und Fesselbringer“ sind, ist möglicherweise nicht einfach falsch. Anselm Grün meint im Anschluss an Drewermann:

Die anderen fesseln den Gerasener, „indem sie ihn in ihre Normen einzwängen möchten. Aber er lässt sich nicht einordnen. Er geht seinen eigenen Weg… Die Umwelt ist mit beteiligt an seiner Dämonisierung. Sie kann das Unbekannte und Nicht-Einzuordnende des Kranken nicht aushalten und versucht ihn daher zu fesseln.“ (217)

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Gehen wir weiter zum zweiten Abschnitt, den V. 6-13. Er bildet das Zentrum, die Begegnung des Heilers Jesus mit dem Dämon:

6 Und als er Jesus von weitem sah, lief er auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder 7 und schrie mit lauter Stimme: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! 8 Er hatte nämlich zu ihm gesagt: Fahr aus, unreiner Geist, aus dem Menschen! 9 Und er fragte ihn: Wie heisst du? Und er sagt zu ihm: Legion heisse ich, denn wir sind viele. 10 Und sie flehten ihn an, sie nicht aus der Gegend zu vertreiben. 11 Nun weidete dort am Berg eine grosse Schweineherde. 12 Da baten sie ihn: Schick uns in die Schweine, lass uns in sie fahren! 13 Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Schweine. Und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter in den See, an die zweitausend, und sie ertranken im See.

Der Anfang der Szene in Vers 6 schliesst sich nicht flüssig an das zuvor Erzählte an: In V. 2 heisst es, dass der Mann Jesus „sogleich… über den Weg lief“. Nun heisst es, er habe ihn von weitem gesehen und sei dann auf ihn zugelaufen.

Auf Grund solcher Beobachtungen meinen spitzfindige Fachleute, ("diachron") bis zu fünf Vorstufen des uns heute vorliegenden Textes nachweisen zu können. Andere sind da vorsichtiger – zurecht, wie ich meine. Der Neutestamentler Joachim Gnilka etwa schreibt in seinem Kommentar zur Stelle: „Ausführlichkeit braucht nicht darauf zurückzuführen zu sein, dass eine Überlieferung überarbeitet und erweitert worden ist. Vielmehr zeigt sie, dass der Text der mündlichen Erzählung noch nahe ist.“ (nach 200) Wie dem auch sei, ob mündlicher Erzählstil oder schriftliche Vorstufen – wenden wir uns nun Inhaltlichem zu.

Anselm Grün weist auf eine Ambivalenz im Verhalten des Geraseners hin, die Ambivalenz von Anziehung und Abwehr:

„Als der Mann Jesus sieht, läuft er auf ihn zu und wirft sich vor ihm auf die Knie… Er fühlt sich offensichtlich von ihm angezogen… Doch zugleich schreit er Jesus an: ‚Was habe ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht!‘ Er möchte geheilt werden, und zugleich wehrt er sich dagegen.“ (nach 218)

Solche Ambivalenz, schreibt Grün, sei bei vielen Kranken festzustellen:

„Sie fühlen sich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, gesund zu werden, und dem Widerstand gegen die Heilung. Denn bei ihrer Krankheit wissen sie, wo sie im Leben stehen. Wenn sie gesund werden, wissen sie nicht, was da auf sie zukommt… Sie müssten ihr Leben selbst in die Hand nehmen.“ (ebd.; vgl. Drewermann 362)

Sich niederzuwerfen ist das, was man in der Antike vor einem König und einem Gott tut. Die Anrufung „Sohn des höchsten Gottes“ macht deutlich, dass der Dämon mit seinem übermenschlichen Wissen das wahre Wesen seines Gegenübers erkennt. Der „Höchste“ ist, übrigens, eine nichtjüdische Gottesbezeichnung. Auch Zeus wird, zum Beispiel, als „Höchster“ bezeichnet. Und die Abwehrformel „Was habe ich mit dir zu schaffen“ (mit der, übrigens, Jesus einmal seine Mutter zurückweist; vgl. Joh. 2) verweist in die Welt des Propheten Elija, des grossen Kämpfers gegen die fremden Götter. Das sind Anzeichen dafür, dass wir uns hier, am anderen Ufer des Sees, in eine aus der Perspektive von Jesus und seinen Freunden fremde, heidnische Welt hinein begeben. Darauf wird zurückzukommen sein.

Doch fahren wir zunächst weiter im Text.

Es folgt Vers 8:

8 Er (Jesus) hatte nämlich zu ihm (dem Dämon) gesagt: Fahr aus, unreiner Geist, aus dem Menschen!

Der Vers wirkt, wie schon erwähnt, merkwürdig hinterherhinkend. In der Regel wird er, auch das habe ich schon erwähnt, als Hinweis auf eine ältere Geschichte gewertet. Doch Eugen Drewermann hat eine textimmanente ("synchrone") Erklärung gefunden, die viel interessanter ist:

„Wir hören als erstes von dem Protest des Besessenen gegen Jesus; dann erst berichtet Markus, wodurch Jesus diesen Aufschrei veranlasst hat. ‚Fahre aus, unreiner Geist, aus diesem Menschen‘, habe er gesagt. Es ist eines der seltenen Beispiele…, dass Jesus einem Dämon befiehlt und er keine Macht besitzt, sich Gehorsam zu verschaffen. Jesus muss deshalb noch einmal von vorn beginnen, indem er sich nach dem Namen des ‚Besessenen‘ erkundigt.“ (362)

Es sei dies, sagt Drewermann, „die einzige Frage, die wirklich zu heilen vermag“:

„In der Psychoanalyse geschieht im Grunde nichts anderes, als dass diese eine Frage immer wieder mit anderen Worten und in jeweils anderem Zusammenhang beharrlich und geduldig gestellt wird, nicht: ‚Was muss ich tun?‘, oder ‚Wie muss ich sein?‘, sondern: ‚Wer bin ich selber?‘, ‚Was lebt in mir?‘, ‚Was geht in meiner Seele vor sich?‘, ‚Was ist mein Wesen?‘“ (363)

Das alles ist enthalten in der Frage nach dem Namen. Die Antwort ist, je nachdem, wie man sie liest, komisch oder erschütternd:

„Legion heisse ich, denn wir sind viele.“

Legion ist ein lateinisches Fremdwort – auch dieses verweist also in eine fremde, unheimliche, heidnische Welt. Eine Legion zählte 6000 Mann, dazu kamen noch Hilfstruppen in grosser Zahl. In der Forschung hat man die interessante Vermutung geäussert, dass die bösen Geister, die diesen Mann besetzen, Totengeister sind, die in den Gräbern gefallener Widerstandskämpfer hausen und nicht zur Ruhe kommen.

Die Legion symbolisiert die römische Besatzungsmacht, die ebenso wie der Dämon aus dem Gerasener nicht aus dem besetzten Gebiet abziehen will. Anselm Grün assoziiert Soldatenstiefel, die auf der Seele des geplagten Geraseners herumtrampelten (219). Der entscheidende Punkt aber, den wiederum Drewermann hervorhebt, ist, dass „Legion“ als Antwort auf die Frage nach dem Namen bedeutet: Dieser Mensch hat „überhaupt kein Ich“ (363).

„Stattdessen existiert in ihm eine Vielzahl von verselbständigten Handlungs- und Denkgewohnheiten, von abgeschnürten Komplexen“ (ebd.)

Darauf weist, rein sprachlich, der Wechsel von der Einzahl zur Mehrzahl: „Legion“, sagt der Dämon mit betont vorangestelltem Namen, „heisse ich, denn wir sind viele.“ Der Heilungsprozess führt hinein in eine Ganzheit, Integrität, Eindeutigkeit. Sie geschieht in der Begegnung mit Jesus, wie Grün schön schreibt:

Er, „der eins ist mit sich und mit Gott, ist für den in sich Zerrissenen wie ein Magnet, der all die auseinanderfallenden Seelenteile wieder zusammenfügt.“ (219)

Diesen Heilungsprozess schildert unsere Geschichte symbolisch als Exorzismus. Damit betreten wir ein Terrain, das mir nicht nur fremd und unheimlich, sondern auch zutiefst zuwider ist.

Ich bin sehr froh, beim grossen Heidelberger Neutestamentler Gerd Theissen ein paar grundsätzliche Bemerkungen dazu gefunden zu haben:

„Wer in unserer Zeit durch exorzistische Hoffnungen Menschen davon abhält, ärztliche Hilfe zu suchen, macht sich schuldig – zumal bei ausbleibenden Erfolgen der leidende Mensch noch depressiver werden könnte, weil er sich nun als ganz verworfen erlebt…“ (243, A 165)

Trotzdem kann Theissen den Exorzismen in der Bibel Sinn abgewinnen:

„Besessenheit ist eine dissoziative Störung… Die Opfer identifizieren sich mit dem Angreifer, mit dem misshandelnden und unterdrückenden Menschen. Wenn sie in ‚Flash-Backs‘ … die traumatisierende Situation immer wieder so intensiv erleben, als sei sie gegenwärtig und als seien sie ihr noch immer hilflos ausgeliefert, dann erleben sie sich wie von einer fremden Macht besetzt… Eine Therapie besteht hier nicht darin, diese traumatisierenden Introjekte anzueignen, sondern sie zu entfernen. Der traumatisierte Mensch muss darin unterstützt werden, die Abbilder der Peiniger und Folterer aus sich zu entfernen und sich ihnen gegenüber abzugrenzen.“ (243f.)

Das ist es, was im Exorzismus geschieht: Entfernung, Distanzierung, Abgrenzung.

Zum Exorzismus gehört – und nun kehren wir wieder zurück in die mir behaglichere Welt der Literatur- und Religionswissenschaft – oft das Motiv der Konzession. Der unterlegene Dämon verhandelt mit dem Exorzisten.

Es gibt geradezu rührende Beispiele von Konzessionen, die einem das Herz für die Dämonen öffnen. Ein ägyptischer Dämon, bevor er aus Prinzessin Bentresch abzieht, bittet den exorzierenden Gott: „Aber möge deine Majestät geruhen, mit mir noch einen Festtag zu feiern“, worauf der Gott ihm ein grosses Opfer bereiten lässt.

Und Rabbi Chanina ben Dosa soll im Jahr 70 unserer Zeitrechnung einer weiblichen Dämonin mit dem schönen Namen Agrath bath Machlath verboten haben, durch bewohntes Gebiet zu streifen. Diese habe darauf gesagt: „Ich bitte dich, lass mir etwas Raum!“ Der Exorzismus endet mit der Konzession: „Da liess er ihr die Nächte zu den Sabbaten und zu den vierten Tagen.“ (Pesch 289)

Auch unser Dämon bittet darum, nicht aus dem Land vertrieben zu werden. Das „Land“ steht im Gegensatz zur „Wüste“ als der Welt des Chaos und der Finsternis.

Diese Welt bzw. Unwelt wird in der Bibel – manche erinnern sich – durch düstere, drachenartige Gestalten wie Rahab und Leviathan repräsentiert, der Ozean, der im antiken Weltbild die geordnete, belebte Welt umgibt, sie bedroht und von Gott zurückgedrängt wird, symbolisiert dieses Chaos.

„Tohuwabohu“ lautet das entsprechende hebräische Wort, „und die Erde war Tohuwabohu“, heisst es am Anfang der Bibel, bevor Gottes Wort die Welt erschuf, „und Finsternis brütete über der Urflut“ – das hebräische Wort für „Urflut“, „Tehom“ ist verwandt mit der babylonischen Chaosgöttin „Tiamat“.

Schweine sind nach jüdischem Gesetz unreine Tiere, auch sie gehören der Welt des Chaos und des Todes an, in der die ganze gespenstische Szenerie verortet ist: Auf dem Friedhof, in den Grabeshöhlen.

Die Konzession, die sich die Dämonen-Legion ausbedingt, erweist sich – anders als das Festlein des ägyptischen Dämons – als Weg in den Abgrund, die totale Vernichtung. Der Schrei, den der Dämon zu Beginn der Geschichte im Anblick von Jesus ausstösst (V. 7, vgl. V. 5) erweist sich als Todesschrei. Auch Jesus Christus, als er verschied, stiess einen lauten Schrei aus.

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Dieser Bezug führt in die tiefsten Tiefen unserer Erzählung. Ich überspringe die Verse 14-19a und komme direkt zum Schluss des Textes (V. 19b-20). Da sagt Jesus zum Gerasener:

Geh nach Hause zu den Deinen und erzähle ihnen, was der Herr mit dir gemacht hat und dass er Erbarmen hatte mit dir. 20 Und der ging weg und fing an, in der Dekapolis kundzutun, was Jesus mit ihm gemacht hatte.

Das Markusevangelium ist aufgebaut auf der theologischen Konzeption des Messiasgeheimnisses. Dieses besagt, dass Jesus, der Wunder tut, der die Menschen heilt und mit seinen Worten begeistert, der als sogenannter „Theios Aner“, als göttlicher Mensch durch die Niederungen unseres Erdendaseins zieht und dieses hebt in eine andere Dimension – dass dieser messianische Jesus das ganze Evangelium hindurch eingehüllt ist von einem Schleier des Geheimnisses.

Wer sein wahres Wesen erkennt – es sind meist die Dämonen, nie die Angehörigen, einmal nur Petrus –, wird sogleich mit einem Schweigegebot belegt: „Verstumme“, „sag es niemandem“, so lauten durchwegs die Befehle Jesu.

Sein wahres Wesen erscheint – das ist die mächtige Message des Messiasgeheimnisses – nicht in den Wundern, sondern --- am Kreuz. Hier, am tiefsten Punkt, ganz unten zeigt sich die Gottheit Gottes. „Dieser Mensch war in Wahrheit Gottes Sohn“, lautet das Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuzgalgen, an dem dieser Gescheiterte hängt.

Das ist das Evangelium Jesu Christi, die Frohbotschaft nach Markus, dem ersten und grössten der Evangelisten. Dass seine Sprache gehobenen griechischen Ansprüchen nicht genügt, passt zu dieser Message.

Doch nun gibt es im ganzen Evangelium eine einzige Ausnahme – nämlich unsere Geschichte: Der Gerasener soll gar nichts geheimhalten, heisst es da. Vielmehr soll er hinausgehen in die Dekapolis und „kundtun, was Jesus mit ihm gemacht hatte“.

Die Dekapolis, östlich des Jordan, ist nichtjüdisches Gebiet, ist Heidenland. Land der Fremde, des Chaos, der Gottferne. Der Gerasener ist, lange vor Paulus, der erste "Heidenmissionar". Er ist dafür der richtige Mensch. Denn er hat selber in den Gräbern gehaust, in den Höhlen, in den Abgründen der Seele, dem Ozean, dem Chaos, dem Tohuwabohu. Eben dorthin ist Jesus Christus gegangen. Hinüber ans andere Ufer, hinein in den Friedhof, hinab in die Grabhöhlen. Und hat alles, alles hineingeholt in sein göttliches Licht. Das, glaube ich, ist es, „was Jesus mit dem Gerasener gemacht hatte“. Und was er mit uns macht, hier, heute, jetzt.

Vortrag per Zoom im September 2022

„Kein Brot, keine Tasche, kein Geld“: Predigt über Mk 6, 1-12 im Übergang vom alten ins neue Jahr

Einleitung

Der Silvester steht am Ende des alten und am Anfang des neuen Jahres. Das ist ein geeignetes Datum, um Altes hinter sich zu lassen und aufzubrechen in Neues.

Davon handelt der Text, mit dem wir uns heute befassen – im Rahmen des Predigtzyklus zum Markus-Evangelium.

Der Text hat zwei Teile. Im ersten kommt Jesus in seine Heimatstadt, Nazaret. Seine Botschaft findet dort kein Gehör, was zur Folge hat, dass er Nazaret hinter sich lässt.

Im zweiten Teil sendet er seine Jünger aus, in Neues hinein. „Nichts sollt ihr mit auf den Weg nehmen, kein Brot, keine Tasche, kein Geld im Gürtel“, lautet die Weisung des Meisters.

Das Alte hinter sich lassen, in Neues hineingehen: Wir hören aus dem Markusevangelium Kap. 6 die Verse 1-12:

Text: Mk 6, 1-12

6, 1 Jesus kommt in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm. 2 Und als es Sabbat geworden war, begann er, in der Synagoge zu lehren. Und viele, die zuhörten, waren überwältigt und sagten: Woher hat der das, und was für eine Weisheit ist das, die ihm gegeben ist? Und solche Wunder geschehen durch seine Hände! 3 Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns? Und sie nahmen Anstoss an ihm. 4 Und Jesus sagt zu ihnen: Nirgends gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seiner Familie. 5 Und er konnte dort kein einziges Wunder tun, ausser dass er einigen Kranken die Hand auflegte und sie heilte. 6 Und er wunderte sich über ihren Unglauben.

Dann zog er in den umliegenden Dörfern umher und lehrte.

7 Und er ruft die Zwölf herbei. Und er begann, sie zu zweien auszusenden, und gab ihnen Vollmacht über die unreinen Geister. 8 Und er gebot ihnen, nichts auf den Weg mitzunehmen ausser einem Stab, kein Brot, keinen Sack, kein Geld im Gürtel, 9 nur Sandalen an den Füssen, und: Zieht euch kein zweites Kleid an! 10 Und er sagte zu ihnen: Wo ihr in ein Haus eintretet, da bleibt, bis ihr von dort weiterzieht. 11 Wo ein Ort euch nicht aufnimmt und man euch nicht zuhört, von dort geht wieder weg und schüttelt den Staub von euren Füssen - das soll ihnen ein Zeichen sein!
12 Und sie zogen aus und verkündigten, man solle umkehren. 13 Und sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie.

Predigt

Nazaret, die biografische Heimat von Jesus, ist heute die „bevölkerungsreichste arabische Stadt im Staat Israel“. Damals war es ein unbedeutendes Kaff, abseits der grossen Strassen, irgendwo in den Bergen. Ein paar hundert Bewohnerinnen und Bewohner aus ein paar wenigen Sippen lebten dort (nach Eckey 215). Die meisten waren Bauern, bauten Getreide, Wein, Feigen, Oliven an.

Welchen Beruf Jesus ausübte, ist nicht ganz klar. Vielleicht war er als Bauhandwerker beim Neuaufbau der Residenzstadt Sepphoris tätig. Im Vergleich zu Nazaret war Sepphoris eine boomende City, dort wurde im damals angesagten hellenistischen Stil gebaut, unter der Ägide des ehrgeizigen Landesfürsten Herodes-Antipas.

Vielleicht stellte Jesus aber auch bäuerliches Gerät wie Pflüge und Joche her für die Bedürfnisse der Bauern in Nazaret.

Jedenfalls gab er seinen Job in jungen Jahren auf. Seither verkündete er – so erzählt es die Bibel – als Wanderprediger das „Geheimnis des Gottesreichs“ (Mk. 4, 11) und verwirklichte es kraft seiner Wundertaten.

Nun kehrt er zurück in sein Heimatdorf. Er predigt, wie er das überall zu tun pflegt, am Sabbat in der Synagoge. Die Reaktion der Leute ist ambivalent.

Zunächst scheinen sie beeindruckt zu sein. Sie fragen sich, was das für eine Weisheit sei, die aus Jesus spricht. Und was das für Wunder seien, die mittels seiner Hände geschehen, körperliche Heilungen, auch psychische Heilungen, die im damaligen Weltbild als Austreibung von Dämonen beschrieben werden. Beides, Weisheit und Wunder, kommt nach antiker Überzeugung von Gott her.

Doch dann ändern sich die Fragen:

„Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns?“

Diese „Familienforschung“ (Marti) führt zu folgendem Fazit:

„Sie nahmen Anstoss an ihm.“

Das entsprechende griechische Wort lautet: „Eskandalisonto“; da hört man das Wort „Skandal“ drin, übersetzt: Sie stolperten, sie fielen um.

Man fragt sich, warum das passiert. Eugen Drewermann, der bekannte zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker, dessen Kommentar zum Markusevangelium mich bei der Predigtreihe auf Schritt und Tritt begleitet, stellt zunächst fest:

Dass dieser Mann mit Charisma predigt und übernatürliche Wunder vollbringt – dagegen kann man doch eigentlich nichts haben. Offenbar ist er ein Mensch, der von Gottes Geist, der göttlichen Geistkraft durchdrungen ist. Dass es so etwas gibt, war in der Antike selbstverständlicher, als es das heute vielleicht ist.

Und weiter: Jesus ist der Zimmermann aus einer der Sippen im Dorf. Alle kennen ihn. Alle kennen seine Brüder und seine Schwestern, die inzwischen geheiratet haben. Alle sind im Dorf geblieben.

Auch dagegen ist doch eigentlich nichts einzuwenden. „Der wirkliche Skandal“, schreibt Drewermann…:

„Der wirkliche Skandal liegt darin, dass in der Gestalt Jesu beide Seiten zusammen kommen: die Person des Menschen, den man zu kennen glaubt, und gleichzeitig das Wunderbare und Unerhörte, wie es zu einem göttlichen Menschen gehört; diese Synthese des scheinbar völlig Unvereinbaren ist das, woran die Menschen Anstoss nehmen.“ (nach 377)

In der katholischen Dogmatik wird die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens postuliert. Doch hier ist von Brüdern und Schwestern Jesu die Rede – sie sind allesamt dorfbekannt. Jesus ist wirklich einer wie du und ich.

Aber/und zugleich wirken durch ihn göttliche Qualitäten – die „Weisheit Gottes“ und die „Wunder-Kraft Gottes“. Da ist ein inneres Licht, das durch ihn leuchtet und die Seelen anrührt und erhellt.

Und dieses Licht, das ist eben das Irritierende – dieses Licht könnte auch durch uns leuchten:

„Wenn es möglich ist, dass jemand in den Gassen von Nazareth solche Gedanken zu denken wagt, solche Visionen zu träumen vermag, solche weitherzigen Gefühle in sich zu tragen sich getraut, heisst denn das dann nicht …, dass jeder in Nazareth zu etwas Ähnlichem imstande und berufen ist?“ (382)

„Ja, genau das heisst es“, sagt Drewermann, jede und jeder in Nazaret und überall auf der Welt:

„Ein jeder überall auf der Welt, jeder, einfach weil er ein Mensch ist, trägt in sich die wunderbarsten, die schönsten und grossartigsten Verheissungen. Im Herzen eines jeden wohnt ein Himmelreich.“ (382)

Doch von diesem Himmelreich wollen die Nazarener nichts wissen. Besser, es bleibt alles beim Alten:

„Vielleicht gibt es in uns keinen Hang, der gegenüber Gott so sehr versperrt wie die Neigung, einander einzuordnen und nach fertigen Mustern, Vorstellungen und Begriffen unter der Rubrik ‚Bekanntes‘ abzuhaken. Was wir im Grunde fürchten, ist das Neue, Unvertraute, Überraschende; es stört unsere Gewohnheit, es unterbricht den ‚normalen‘ Lauf der Dinge.“

Die Menschen in Nazaret nahmen Anstoss am Neuen, Unvertrauten, Überraschenden. Der normale Lauf der Dinge sollte nicht unterbrochen werden. Also hakte man den Rückkehrer ab unter der Rubrik „Bekanntes“: der Zimmermann, der Sohn der Maria.

Und er? Er „schüttelte den Staub von den Füssen“ und ging weiter.

„Dust in the Wind“, also „Staub im Wind“ – so heisst der Kult-Song der us-amerikanischen Rock-Band Kansas aus den 70-er Jahren, den wir in einem Ad hoc-Chor eingeübt haben und nun, als Überleitung zum zweiten Teil der Predigt, singen.

Song: „Dust in the Wind“ (Ad hoc-Chor)

In dem Song, den wir da gesungen haben, heisst es:

"Dasselbe alte Lied, nur ein Tropfen Wasser in einem endlosen Meer.
Alles was wir tun, zerbröselt am Boden, doch wir weigern uns, es zu sehen.
… Nichts hält für immer ausser Erde und Himmel.
Es verschwindet alles, und all dein Geld kann keine weitere Minute kaufen.
Staub im Wind, alles was wir sind, ist Staub im Wind."

Jesus hat aus dieser Einsicht radikale Konsequenzen gezogen – für sich selber und für seine Schülerinnen und Schüler. Sandalen und ein Stock, die Grundausrüstung für einen Wanderer, müssen genügen. Alles Weitere lässt man hinter sich: Kein Proviant, keinen Rucksack, kein Geld nimmt man mit auf den Weg.

Der grosse Berner Dichterpfarrer Kurt Marti sagt in einer Predigt über unseren Text:

Das Beispiel Jesu stellt uns „heftig in Frage: uns, die wir zentnerschwer behangen sind mit den Gewichten unserer Bindungen und Traditionen, Rücksichten und Besitztümer und die wir deshalb so immobil geworden sind.“ (114)

Ich erlaube mir, an dieser Stelle einen kurzen Moment aus der Studierstube drüben im Pfarrhaus zu plaudern:

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle schreiben, dass einen die Worte Jesu (und jene Kurt Martis) nachdenklich machen, wenn man in einem Pfarrhaus lebt und einen guten Lohn hat.

Tatsächlich habe ich früher viel über diese Worte Jesu gegrübelt und mein eigenes Leben in seiner Behäbigkeit infrage gestellt. Doch am Ende dieses Jahres ist es anders. Ich bin unendlich dankbar, in relativer Sicherheit leben zu dürfen. Und dass das Pfarrhaus einer geflüchteten Familie Obdach bieten kann – auch das stimmt mich tief dankbar.

Das Jahr, das zu Ende geht, hat einem Sicherheiten entzogen wie keines zuvor, seit ich lebe – wenn ich am Ende dieses Jahres den Worten Jesu für mich selber einen Sinn abgewinnen will, dann einen symbolischen:

All das, was meine Identität auszumachen scheint, als Zimmermann oder als Pfarrer, all das gilt es loszulassen, so wie jene Wanderer rund um Jesus alles zurücklassen. Es gilt, offen und weit zu werden und einfach, ganz einfach.

Nur ein Kleid sollen wir tragen, kein zweites, sagt Jesus.

Im Gespräch über den Text hat mir jemand gesagt, für sie bedeute dies, dass wir authentisch sein sollen, dass wir nicht heute dieses und morgen jenes Kleid tragen, also im übertragenen Sinn nicht heute diese und morgen jene Rolle spielen sollen.

Nur ein Kleid zu haben bedeutet dann eben dies: Authentisch zu sein. Wesentlich.

Es gibt die Vorstellung, dass wir, als wir im Paradies lebten, ein Lichtkleid trugen. Dieses mussten wir zurücklassen, als wir aus dem Garten Eden vertrieben wurden hinein in diese Welt.

Wenn einst all unsere Leistungen am Boden zerbröselt sein werden, wenn alles Geld weg ist und unser Leib verweht wie Dust in the Wind, dann, glaube ich, dann wird dies das eine Kleid sein, das wir tragen, das Lichtkleid. Wir tragen es heute schon, vergessen vielleicht und versteckt unter den Fellen, die uns umhüllen hier draussen, East of Eden, Jenseits von Eden, wo es kalt ist. Das ist es, woran Jesus Christus uns erinnert: Dass dies unser wahres Wesen ist, wir sind wie er Licht von Licht und Gott von Gott.

Lassen wir also zurück, was wir nicht brauchen, jetzt im Übergang in das Neue hinein – auf dass das eine Kleid von innen her leuchtet.

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Etwas noch, ganz zum Schluss: Jesus ist in Nazaret offenbar gescheitert, ausgerechnet dort, wo er ein Heimspiel hatte. Doch das zieht ihn nicht runter. Er schüttelt den Staub von den Füssen und geht weiter, immer weiter.

Es ist etwas, was mich an der ukrainischen Familie, die mit uns zusammenlebt, tief beeindruckt: Hinter ihnen liegt das zerbombte Charkiw. Doch sie gehen weiter, immer weiter.

Es gibt, scheint es, eine Lebenskraft, die immer wieder hervorbricht. Wie die Blüten des Mandelzweigs im Gedicht des deutsch-israelischen Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin. Er hat es 1942 geschrieben, als Jude zur Zeit des Nazionalsozialismus:

„Tausende zerstampft der Krieg,
Eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
Leicht im Winde weht.

Freunde, dass der Mandelzweig
Wieder blüht und treibt,
Ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?“

Das ist es, was ich uns und der Welt, in der wir leben, von Herzen wünsche im kommenden Jahr: Dass der Mandelzweig wieder blüht, dass das Leben siegt, dass die Liebe bleibt. Bhüet eus, Gott! Amen.

Kaiseraugst, 31. Dezember 2022

Fünf Brote, zwei Fische (Mk 6, 30-44): Gottesdienst mit Abendmahlsfeier zum Abschluss der Schöpfungszeit

Einleitung, Eingangsgebet und -lied

Am 4. Oktober, dem Gedenktag des „Umweltheiligen“ Franz von Assisi, endet die SchöpfungsZeit. Man kennt den Advent vor Weihnachten und die Fastenzeit vor Ostern. Die ökumenische SchöpfungsZeit ist weniger bekannt, aber umso wichtiger in der Zeit, in der wir leben.

Sie beginnt jeweils vom 1. September, der in den orthodoxen Kirchen als Schöpfungstag begangen wird, und dauert bis zum 4. Oktober, dem Gedenktag des „Umweltheiligen“ Franz von Assisi.

Passend zur Schöpfungszeit wenden wir uns heute einem Schöpfungswunder in der Bibel zu: Der Speisung der Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen. Die Geschichte wird im Markusevangelium erzählt, mit dem ich mich derzeit in einem Predigtzyklus befasse.

Brot und Fisch erscheinen in der frühen christlichen Kunst als Symbole des Abendmahls, das wir in diesem Gottesdienst endlich wieder einmal feiern.

Im Markusevangelium stehen viele Wunder – die meisten sind sogenannte Therapien und Exorzismen, also Heilungen und Dämonenaustreibungen. Inzwischen habe ich darüber schon mehrfach gepredigt.

Die Wundergeschichte von heute hat eine andere Qualität: Es ist, wie erwähnt, ein sogenanntes Schöpfungswunder; auch als Naturwunder und als Geschenkwunder wird sie in der Forschung bezeichnet.

Therapien und Exorzismen gehören vielleicht nicht zu unserer neuzeitlichen Lebenswelt, doch in der Antike gehörten sie zum Alltag. Bei den Geschenkwundern ist das anders. Der zeitgenössische Neutestamentler Gerd Theissen schreibt:

„Keine Gattung der Wundergeschichten ist so sehr der Phantasie entsprungen wie diese, keine hat so sehr den Charakter der Schwerelosigkeit, des Wunsches, der unbefangenen Märchenhaftigkeit.“ (Theissen 113)

Etwas von dieser paradiesischen Schwerelosigkeit klingt an in dem Schöpfungslied, das ich eingangs zitiert habe und das wir im Anschluss ans Eingangsgebet singen: „Himmel, Erde, Luft und Meer zeugen von des Schöpfers Ehr“ – möge etwas von diesem ursprünglichen Ganzsein und Heilsein; möge davon etwas spürbar werden jetzt in dieser Feier. Wir beten und singen anschliessend bei Nummer 530 alle 6 Strophen.

Gebet:

Gott
Himmel, Erde, Luft und Meer
Mond und Sterne, Regen und Wolken der vergangenen Nacht
Die Sonne, die den Tag hell macht
Die Erde, die mich trägt
Die Tiere auf den Feldern, in den Wäldern,
Die Vögel des Himmels,
Das Strömen der Flüsse, das Rauschen des Meers ---
Alles singt dein Lied
Und ich, ich stimme ein mit meiner menschlichen Stimme:
„Ach, mein Gott, wie wunderbar nimmt dich meine Seele wahr.“
Ich danke dir für mein Leben.
Ich danke dir für den heutigen Tag.
Danke, dass du da bist – du, mein Gott. Amen.

Lied: „Himmel, Erde, Luft und Meer“ (530, 1-6)

Einführung zum Predigttext


Die Geschichte von der Speisung der 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen ist eine sogenannte Wanderlegende. Allein im Neuen Testament wird sie in sechs verschiedenen Varianten erzählt.

Im Alten Testament verrichten die Propheten Elija und Elischa ähnliche Wundertaten, in der griechischen antiken Welt kursiert dieselbe Story, ebenso in China, in Indien usw. Im Nachklang des buddhistischen Sandmandala-Projekts interessiert den einen oder die andere vielleicht besonders, dass auch vom Buddha Shakyamuni ähnliches erzählt wird:

„Buddha sättigte mit einem einzigen Brot, das man in seine Almosenschale gelegt hatte, nach seinen 500 Jüngern auch noch alle Klosterinsassen. Die auch dann noch übriggebliebenen Reste füllten die 12 Körbe (!)“ (nach Eckey 236).

Auch in unserer Geschichte – das ist ein erstaunlicher Zufall – bleiben am Schluss 12 Körbe mit Brotbrocken übrig.

Die Zwölf symbolisiert die himmlische Welt, den Sternenhimmel mit seinen zwölf Tierkreiszeichen, die zwölf Tore des neuen Jerusalem, der himmlischen Stadt.

Am Anfang der Geschichte überqueren Jesus und seine zwölf Jünger den See. Diese Überfahrt symbolisiert den Übergang in eine andere Dimension, eine andere Welt – eine schwerelose, märchenhafte Welt, in der Wunder möglich sind. Es ist die paradiesische Welt des berühmten 23. Psalm besingt:

„GOTT isch miin hirt, mir fäälts a nüüt.
ER laat mi wäiden im saftige graas
und füert mi as wasser, won i cha trinke
und won i chan uusrue.
Deet git ER mer d seel wider zrugg“.
(Übersetzung nach Josua Boesch)

Wer die Geschichte von der wunderbaren Speisung der 5000 genau liest, hört darin Anklänge an diesen Psalm. Die Speisungsgeschichte nimmt Bezug auf diverse Motive wie jenes vom Hirten, vom grünen Gras, vom Ausruhen und Essen und Trinken.

Hören wir also die Geschichte – sie steht im Markusevangelium, Kapitel 6, in den Versen 30-44. Und singen wir anschliessend den 23. Psalm: „Der Herr, mein Hirte, führet mich“.

Text: Die Speisung der fünftausend (Mk 6, 30-44)

30 Und die Apostel versammeln sich bei Jesus. Und sie berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.

31 Und er sagt zu ihnen: Kommt, ihr allein, an einen einsamen Ort, und ruht euch ein wenig aus. Denn es war ein Kommen und Gehen, und sie hatten nicht einmal Zeit zum Essen.

32 Und sie fuhren im Boot an einen einsamen Ort, wo sie für sich waren. 33 Aber man sah sie wegfahren, und viele erfuhren es. Und sie liefen zu Fuss aus allen Städten dort zusammen und kamen noch vor ihnen an. 34 Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen, und sie taten ihm leid, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing an, sie vieles zu lehren.

35 Und als die Stunde schon vorgerückt war, traten seine Jünger zu ihm und sagten: Abgelegen ist der Ort und vorgerückt die Stunde. 36 Schick die Leute in die umliegenden Gehöfte und Dörfer, damit sie sich etwas zu essen kaufen können. 37 Er aber antwortete ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sagen zu ihm: Sollen wir gehen und für zweihundert Denar Brote kaufen und ihnen zu essen geben? 38 Er aber sagt zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach! Sie sehen nach und sagen: Fünf, und zwei Fische. 39 Und er forderte sie auf, sie sollten sich alle zu Tischgemeinschaften niederlassen im grünen Gras. 40 Und sie lagerten sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig. 41 Und er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis und brach die Brote und gab sie den Jüngern zum Verteilen, und auch die zwei Fische teilte er für alle.

42 Und alle assen und wurden satt. 43 Und sie sammelten die Brocken, zwölf Körbe voll, und auch die Reste von den Fischen. 44 Und es waren fünftausend Männer, die gegessen hatten.


Lied: „Der Herr, mein Hirte, führet mich“ (18, 1-5)

Predigt


Die Geschichte, die wir gehört haben, enthält eine Fülle von Zahlen: Von 200 Denar ist die Rede, von 5 Broten und 2 Fischen, von Tischgemeinschaften zu 100 und zu 50, von 12 Körben mit Brotbrocken und schliesslich von 5000 Männern.

Zahlen in biblischen Texten sind selten zufällig, sie haben symbolischen Sinn.

Dass die Zwölf die himmlische Welt symbolisiert, habe ich schon erwähnt. Sie kommt am Schluss vor, zusammen mit der 5000. Die Fünf, die in 5000 enthalten ist und in den 5 Broten, scheint so etwas wie die Leitzahl der Geschichte zu sein.

In der Forschung ist subtil beobachtet worden, dass das Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern im Zentrum der Geschichte aus einer fünffachen direkten Rede besteht.

Und dass die Segenshandlung Jesu an den fünf Broten mit genau fünf Verben beschrieben ist: „Er nahm die fünf Brote, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis und brach die Brote und gab sie den Jüngern zum Verteilen“.

Die Fünf, schreibt der bekannte zeitgenössische Benediktinermönch und spirituelle Lehrer Anselm Grün, sei „die Zahl des Menschen“ (226).

Es tut sich also das Spannungsfeld auf zwischen der 12 und der 5. Es ist das Spannungsfeld zwischen Gott im Himmel und uns Menschen auf Erden.

In eben diesem Spannungsfeld bewegt sich unsere Geschichte. Der grosse, vor fünf Jahren verstorbene Berner Dichterpfarrer Kurt Marti sagt in seiner Predigt zu unserer Geschichte:

„Das Wunder signalisiert die Gotteswelt in ihren unbegrenzten Möglichkeiten mitten im Alltag mit seinen Ernährungsproblemen… Es öffnet sich Gottes Himmel zur Erde hin. Es vollzieht sich die Integration von Gotteshimmel und Menschenwelt“ (nach 123f.).

Marti zitiert das schöne irische Sprichwort:

„Gott hat den Himmel, aber er will auch die Erde.“

Das ganze Evangelium, das Leben und Sterben Jesu Christi, sagt Kurt Marti, sei „ein einziges Integrationsgespräch“ (123), ein Gespräch, in dem die Erde in den Himmel „integriert“, hineingeholt wird.

In unserer Geschichte verdichtet sich dieses „Integrationsgespräch“, welches das ganze Evangelium ist, in dem schon angedeuteten fünfteiligen Dialog:

Die Jünger sagten:

1. Abgelegen ist der Ort und vorgerückt die Stunde. Schick die Leute in die umliegenden Gehöfte und Dörfer, damit sie sich etwas zu essen kaufen können.

Er aber antwortete ihnen:

2. Gebt ihr ihnen zu essen!

Und sie sagen zu ihm:

3. Sollen wir gehen und für zweihundert Denar Brote kaufen und ihnen zu essen geben?

Er aber sagt zu ihnen:

4. Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach!

Sie sehen nach und sagen:

5. Fünf, und zwei Fische.

„Sollen wir gehen und für zweihundert Denar Brote kaufen und ihnen zu essen geben?“ – die Frage klingt ironisch-bitter. Eben erst hat Jesus ihnen verboten, auch nur ein paar Franken Taschengeld auf sich zu tragen. Nichts sollen sie mitnehmen auf den Weg, sagte er.

200 Denare sind defintiv jenseits des Budgets der Nachfolger Jesu. Sie haben gerade mal 5 Brote und 2 Fische.

Die Antwort der Jünger ist die des gesunden Menschenverstands. Und gerade so ist sie Ausdruck jenes grossen Missverständnisses, das sich durch alle Wundergeschichten zieht.

Das Missverständnis gehört essentiell zum Wunder, weil dieses „in einen Raum vorstösst“, der unser Alltagsbewusstsein weit überschreitet (nach Theissen). Jesus stösst vor in den Raum, aus dem er selber kommt: den Himmel. In seinen Wundern kommt der Himmel auf Erden.

Die 5000 Leute, die da assen und satt wurden, merkten davon vermutlich nichts. „Vielleicht“, sagt Kurt Marti in einer, wie ich finde, sehr lustigen Nebenbemerkung, „fallen anerkennende Worte über die gute Organisation der Massenverpflegung“.

Doch auch die Jünger, die nah am Geschehen sind – auch sie verstehen nicht. Der zeitgenössische Musiker und Dichter Nick Cave schreibt nicht nur wunderbare Rockballaden – er hat auch eine ganz kurze, sehr dichte Einleitung ins Markusevangelium verfasst, die mich während meiner Auseinandersetzung mit Markus dauernd begleitet. Nick Cave schreibt:

„Selbst seine Schüler, von denen wir hofften, dass sie ein wenig von Christi Glanz annehmen würden, scheinen nur durch einen Nebel des Nichtverstehens zu tappen, sie folgen Christus von einer Szene zur andern und begreifen doch wenig oder gar nichts von dem, was um sie her vorgeht… Seine göttliche Inspiration im Gegensatz zum dumpfen Rationalismus seiner Umgebung, dieser Abgrund des Missverstehens – das ist es, was Markus‘ Erzählung so rasant und spannend macht.“ (nach 12)

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Diesen Abgrund des Missverstehens, diesen Gegensatz zwischen göttlicher Inspiration und dumpfem Rationalismus überwindet das „Mitleid“ Jesu. Am Anfang der Geschichte heisst es:

„Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen, und sie taten ihm leid; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (V. 34)

Die Übersetzung „sie taten ihm leid“ ist vielleicht etwas schwach. Es geht um Erbarmen, um Mitgefühl, compassion. Das ist es, was Jesus empfindet. Wir würden die entsprechenden Gefühle vermutlich im Herzen situieren. Das entsprechende griechische Wort geht noch tiefer: Es leitet sich ab von den „Eingeweiden“, dieses Mitgefühl geht bis ins Innerste und Tiefste, bis in die Innereien hinein.

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Christus hat sich bis in die tiefsten Tiefen hinein mit uns verbunden. Nick Cave spricht von der „fundamentalen Menschlichkeit des Christus“. Zugleich ist dieses „Erbarmen“, dieses „Mitgefühl“ Ausdruck seines göttlichen Wesens. In der Bibel ist „Erbarmen“, „Mitgefühl“ eine Qualität Gottes.

„Gott dich krönt mit Gnade und Erbarmen“, heisst es in einem Psalm (103, 4). „Güte und Erbarmen werden mir folgen all meine Tage“, heisst es im 23. Psalm, den wir eingangs gesungen haben.

Das Erbarmen ist da verbunden mit dem Motiv des Hirten – der Hirt ist ein biblisches Bild für Gott, das dann auf Jesus Christus übertragen wird.

Die verirrte, verwirrte Herde symbolisiert eine Welt, die durcheinandergeraten ist, symbolisiert auch die zerstreuten Anteile meiner Seele – diese sammeln sich, ordnen sich, sie lagern gleichsam im grünen Gras und kommen zur Ruhe, wenn das Erbarmen Gottes sich über ihnen ausbreitet, entsprechend den wunderbaren Worten des 23. Psalms:

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Auf grünen Auen lässt er mich lagern, zur Ruhe am Wasser führt er mich. Er stillt mein Verlangen".

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Einer Frage bin ich bislang ausgewichen. Ganz zum Schluss möchte ich mich ihr zuwenden, vorsichtig, tastend: Was geschieht eigentlich in unserer Geschichte? Wie vollzieht sich das Wunder?

In der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts wurde die Ansicht vertreten, „Jesus habe das Wenige, das er besass, so freudig verteilt, dass auch die anderen ihre Vorräte aus der Tasche zogen und alle satt wurden“ – so heisst es etwa im Buch „Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums“ eines Theologen namens Heinrich Eberhard Gottlob Paulus.

Diese Sichtweise hat, wie mir scheint, einen weisen, wahren Kern: Sie ermutigt uns, die „Engstirnigkeit unseres Egoismus“ aufzugeben und „unsere Habe mit anderen zu teilen“ (nach Drewermann).

Und doch kann damit nicht alles gesagt sein. Zurecht sagt Anselm Grün, damit „würde die Erzählung reduziert auf die triviale Alltäglichkeit von Menschen, die ihr Butterbrotpaket vergessen haben“ (nach 225).

Es ist, mit Nick Cave gesagt, die Deutung eines „dumpfen Rationalismus“.

Ich glaube, dass das Reich Gottes bis tief in die materielle Welt hineingeht. Dass der Himmel die Erde durchdringt. Und hier Wunder bewirkt. Heilungen. Und grosse, ungeahnte Geschenke.
Ich glaube, dass wir auf diese Wunder angewiesen sind. Auch heute noch, und heute mehr denn je.

Wie sich das Wunder in der Geschicht vollzieht, weiss man nicht. Die Verbform im griechischen Urtext (Durativ) legt nahe, dass Jesus seinen Jüngern Brotstücke gibt und gibt und immer weiter gibt (nach Eckey und Schweizer).

Mehr wird da nicht gesagt. Was wirklich geschieht, bleibt Geheimnis.

Es heisst:

„Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis und brach die Brote und gab sie den Jüngern…“.

Was Jesus da tut, das erinnert bis in den Wortlaut hinein an die Einsetzungsworte des Abendmahls, und das heisst:

Das Wunder endet nicht dort am See Genezareth, damals vor 2000 Jahren. Es geht weiter, immer weiter, durch die Jahrhunderte hindurch, bis hin zum heutigen Tag.

Eugen Drewermann, der zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker, dessen Kommentar zum Markusevangelium mich bei der Predigtvorbereitung auf Schritt und Tritt begleitet – Drewermann schreibt:

„Seit jenem Abend der Brotvermehrung hat das Wunder nicht aufgehört. Jede Abendmahlsfeier der Kirche besteht darin, dass wir uns Gott in die Hände geben im Wissen darum, dass wir nichts besitzen… Für die Sinne bleibt das Brot, was es ist, es verändert nicht seine Gestalt. Aber unter dem Anschein des Äusseren tritt Gott in unser Leben, und jenseits der Angst, jenseits der Enge … beginnt eine Weite des Herzens, wie wir sie niemals kannten. Wir werden leben, und die Macht des Todes wird gebrochen sein im Zeichen des Brotes...“ (nach 440)

Kaiseraugst, 2. Oktober 2022

Das tiefe Ja unter dem Nein Gottes hervorholen: Predigt über Mk 7, 24-30

Einleitung:

Der Text, mit dem wir uns heute befassen, ist einer der spannendsten der Bibel überhaupt. Er erzählt von einem Sinneswandel von Jesus – m.W. dem einzigen überhaupt.

Bewirkt wird er, was in jener patriarchalen und nationalistischen Gesellschaft höchst erstaunlich ist, durch eine Frau.

Text: Die Begegnung mit der Syrophönizierin: Mk 7, 24-30

24 Von dort aber brach er auf und begab sich in das Gebiet von Tyrus. Und er ging in ein Haus hinein und wollte, dass niemand es erfahre. Doch er konnte nicht verborgen bleiben, 25 sondern sogleich hörte eine Frau von ihm, deren Töchterchen einen unreinen Geist hatte. Die kam und warf sich ihm zu Füssen. 26 Die Frau aber war Griechin, Syrophönizierin von Herkunft. Und sie bat ihn, den Dämon aus ihrer Tochter auszutreiben. 27 Da sagte er zu ihr: Lass zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen. 28 Sie aber entgegnet ihm und sagt: Herr, auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen. 29 Und er sagte zu ihr: Um dieses Wortes willen geh, der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren. 30 Da ging sie nach Hause und fand das Kind auf dem Bett liegen, und der Dämon war ausgefahren.

Predigt

Jesus hat sich zurückgezogen in ein fremdes Gebiet, wo er unbekannt war, in ein Haus, vermutlich von Freunden. Hier hoffte er, sich von den Strapazen des öffentlichen Lebens als Prediger und Heiler erholen zu können.

Doch die Frau in unserer Geschichte überschreitet die Schwelle, dringt ein in sein Refugium, bedrängt ihn.

Die Reaktion Jesu ist ungeheuerlich. Sie ist, nach heutigen Massstäben, rassistisch. Er sagt zu der Frau:

„Lass zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen.“

Mit den Kindern sind die „Kinder Israels“ gemeint, mit den „Hunden“ die Heiden. In einem alten jüdischen Text heisst es, „die gehässigste Verachtung“ zeige sich darin, dass „man einen Menschen einen Hund nennt“ (nach Drewermann 480, A12).

War er einfach nur schlecht gelaunt, weil er in seiner Ruhe gestört worden war? Vermutlich nicht. Vermutlich ging es hier um Grundsätzliches. Um ein Konzept von Erwählung nämlich, dass Israel das von Gott erwählte Volk sei. Oder: dass wir Christen die von Gott Erwählten seien. Vielleicht auch nur wir Reformierten, weil wir den rechten Glauben haben im Gegensatz zu anderen.

Derartige Erwählungskonzepte finden sich allüberall, sie trennen zwischen Orthodoxie und Häresie, zwischen richtigem und falschem Verhalten, zwischen Gut und Böse, Mitglied und Nicht-Mitglied, denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören.

Eine meiner prägenden frühen Kindheitserinnerungen ist, dass ich mich in Winterthur, wo ich aufwuchs, allein ins Nachbarsquartier rüberwagte und dort von den Kids verprügelt wurde. Ich war, halt, keiner von ihnen.

Auch die Frau in unserer Geschichte ist keine „von ihnen“. Sie ist keine Jüdin – sie ist Griechin, also eine Andersgläubige, eine „Heidin“, und eine Ausländerin. Jesus zählt sie zu den Hunden, im Gegensatz zu den Kindern Israels. Unverhohlene Apartheid spricht aus den Worten des Meisters. Der menschgewordene Gott ist wahrlich menschlich, allzu menschlich geworden!

Doch nun erfolgt die möglicherweise überraschendste Wende in der ganzen Bibel. Dass etwas Grosses geschieht, zeigt im Text das plötzliche Präsens an. Sonst wird die Geschichte in der Vergangenheit erzählt. Doch nun heisst es:

„Sie entgegnet ihm und sagt“ –

also in der Gegenwartsform, im Präsens wird der Spitzensatz der Frau eingeleitet:

„Herr, auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen.“

Die Antwort ist unerwartet, sie ist schlagfertig, rhetorisch geschickt, sie zeugt von unglaublicher Geistesgegenwart. Schon Martin Luther hat das erfasst und staunend ausgerufen:

„Ist das nicht ein Meisterstück? Die Frau fängt Christus in seinen eigenen Worten. Er vergleicht sie mit einem Hund, und sie gibt’s zu und bittet nur, er wolle sie dann auch einen Hund sein lassen, wie er selbst urteilt. Wo wollte Christus da hin? Er war gefangen. Einem Hund lässt man ja die Brosamen unter dem Tisch; das ist sein Recht. Darum tut Christus sein Herz nun ganz auf und ergibt sich in ihren Willen, so dass sie nun nicht ein Hund, sondern auch ein Kind ist.“ (nach 510)

Es gibt im Markusevangelium eine ganze Reihe von Streitgesprächen; Jesus gewinnt sie jedes Mal, durchwegs, immer.

Ausser hier. Hier unterliegt er einer heidnischen Frau. Er muss sich, mit Luther gesagt, „ihrem Willen ergeben“. Er muss „sein Herz auftun“. Es ist dies, möglicherweise, die grösste Wende in der Geschichte Gottes mit seiner Welt. Die Wende ist aus tiefer Not geboren.

Eugen Drewermann schreibt:

„Die menschliche Not ist international, sie kennt und erlaubt keine Grenzen. Das menschliche Leid ist an jedem Ort der Erde länderüberschreitend gross. Im Grunde kann man nicht sagen: Israel liegt hier und Griechenland dort.“ (nach 490)

Das war damals schon so, vor zweitausend Jahren. Der Paderborner Drewermann skizziert nicht ohne Humor das Einzugsgebiet Jesu in der damaligen Zeit:

„Selten macht man sich hinreichend klar, wie winzig in Wirklichkeit der Raum gewesen ist, auf den Jesus sich einschränkte. Ein Gebiet nicht grösser als von Paderborn nach Geseke und Erwitte, das war die Welt, in der er lebte und die er nicht verlassen wollte.“ (489)

Doch eben: Die menschliche Not ist international. Das ist heute sehr viel deutlicher als damals, vor zweitausend Jahren. Die scheinbar ausweglos und jedenfalls völlig unberechenbar gewordene Zukunft unseres Planeten – sie lehrt einen beten. Für einen selbst und mehr noch für unsere Kinder und Kindeskinder und für alle Wesen, die unsere Erde bewohnen.

Die griechische Frau in unserer Geschichte – sie ist einem darin Vorbild. Sie ist Vorbild in der Fürbitte. Drewermann weist darauf hin, dass es Formen von Religion gibt, die die Fürbitte überhaupt ablehnen. Er erwähnt zum Beispiel den Buddhismus, dessen Meditationsweg in eine Tiefe führt, wo es keine Wünsche und Bitten mehr gibt, sondern nur noch Ruhe und Frieden in der Unendlichkeit mitten in der Zeit.

Auch im christlichen Raum gibt es diese Art von Religiosität, nämlich in der Mystik. Und wer mich kennt, der weiss, dass mir selber diese Denkformen nahe sind.

„Wer Gott um Gaben bitt‘ / der ist gar übel dran - / er betet das Geschöpf / und nicht den Schöpfer an“ – so etwa sagt der grosse Barockdichter und Mystiker Angelus Silesius.

Die Frau in unserer Geschichte lehrt uns etwas anderes. Gewiss, sie ist „gar übel dran“.
Aber nicht, weil sie „Gott um Gaben bitt‘“, sondern wegen der Krankheit ihrer Tochter. Es ist gerade umgekehrt: Weil sie „übel dran“ ist, fängt sie an zu beten. Und ihre Fürbitte bewirkt – was gemäss Silesius nicht zu erwarten wäre – einen Sinneswandel beim Gottessohn. Gegen sein anfängliches „Nein“ heilt er das Mädchen.

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Martin Luther zeigt in einer tiefsinnigen Predigt über unseren Text auf, wie Jesus die Frau gleich dreifach zurückweist – einen dreifachen Puff habe ihr Jesus gegeben, sagt Luther: Zuerst habe er geschwiegen „wie ein Stock“: „Siehe, das ist ein gar harter Puff, wenn sich Gott so hoch und tief verbirgt.“

Der zweite Puff, sagt Luther, sei noch härter: Dass Jesus nämlich ihre Bitte, das Kind zu heilen, schroff zurückweist.

Und der dritte Puff sei ein veritabler „Mordschlag“: „dass Jesus ihr nämlich ins Gesicht sagt, sie sei ein Hund.“ (nach 508f.)

Der dreifache Puff scheint Gottes Nein zu dieser Frau und ihrem Kind in aller Schärfe herauszustellen. Doch der Frau gelingt mittels ihres Gebets, das „tiefe heimliche Ja unter dem Nein“ hervorzuholen. Der Schein, sagt Luther, „weist auf lauter Nein“. „Und dennoch ist mehr Ja drinnen als Nein. Es ist sogar lauter Ja drin, aber tief und heimlich“.

Vielleicht ist dies unsere Aufgabe in der Zeit, in der wir leben, mit all ihren Abgründen und Ungewissheiten und der drohenden Apokalypse: Betend das tiefe und heimliche Ja Gottes hervorzuholen.

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Soweit die tiefen Gedanken des Martin Luther. Sie werden, wie mir scheint, wunderbar ergänzt durch den Humor des grossen Berner Dichterpfarrers Kurt Marti. In einer Predigt zu unserem Text sagt er zur Aussage der Frau:

„Das kommt nicht feierlich daher, sondern lächelnd, fast witzig, fast anmutig und elegant. Wir entdecken hier, dass der Heilige Geist auch ein Schalk sein kann, mit jenem Humor, der sich dann einstellt, wenn wir Gott heilig ernst, uns selbst dafür nicht mehr so wichtig nehmen.

Nun aber das Schönste, das Unerwartetste an dieser ganzen Geschichte: Jesus versteht den Schalk, versteht den Wink, er krebst zurück, er hat seinen Meister gefunden… Gott gibt Jesus Anweisung durch den Mund einer Heidin! Und dieser gehorcht: Er heilt ihr Kind!“

Möge Gott auch unsere Seelen heilen – und unsere Welt! Und der Heilige Geist, die Ruach, die göttliche Geistkraft halte uns wach für all die Überraschungen, die die Zukunft bereithält. Denn Gott, sagt Marti, „ist kein Prinzipienreiter, und sein Heilsplan folgt keinem Schema F. … Seien wir also auf dem qui-vive, auch nachher, wenn wir nicht mehr in der Kirche sind! Gott ist auch draussen.“

Drinnen und draussen: Bhüet eus, Gott! Amen.

Kaiseraugst, 13. November 2022

Eins sein mit Christus: Predigt über Mk 8, 27-37 zum Beginn der Passionszeit

Einleitung

Der heutige Text gilt als „Wasserscheide und Zusammenfluss“ dieser beiden Teile – eben: der „ausführlichen Einleitung“ und der Passionsgeschichte – des Mk. Er sei von „unvergleichlicher Wichtigkeit“ (Schweizer).

Dichtgedrängt folgen sich Petrusbekenntnis („Du bist der Christus“), erste Leidensankündigung („Der Menschensohn muss vieles erleiden“) und Ruf in die Nachfolge („Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich“).

Das klingt schwierig und schwer, belastet und belastend, als würde es runterziehen. Und das ist wohl auch so. Doch wer Christus nicht nur verehrt, sondern ihm nachfolgt – und das heisst: ihm ähnlich wird –, der wird aufsteigen, wird fliegen.

Das verheisst einen der australische Musiker und Dichter Nick Cave (* 1957) in seiner tiefgründigen, grossartigen Einleitung ins Mk:

„Christus hat verstanden, dass wir als Mensch immer von der Schwerkraft zu Boden gezogen werden, und durch sein Beispiel hat er unserer Fantasie die Freiheit gegeben, aufzusteigen und zu fliegen. Kurz: Christus ähnlich zu sein.“

Wir hören aus dem Markusevangelium Kap. 8 die Verse 27-37:

Text: Mk 8, 27 – 37

Das Bekenntnis des Petrus

8, 27 Und Jesus und seine Jünger zogen weg in die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Unterwegs fragte er seine Jünger: Für wen halten mich die Leute? 28 Sie sagten zu ihm: Für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für einen der Propheten. 29 Da fragte er sie: Und ihr? Für wen haltet ihr mich? Petrus antwortet ihm: Du bist der Messias! 30 Da schärfte er ihnen ein, niemandem etwas über ihn zu sagen.

Die erste Leidensankündigung

31 Und er begann sie zu lehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten und den Hohen Priestern und den Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. 32 Und er sprach das ganz offen aus. Da nahm ihn Petrus beiseite und fing an, ihm Vorwürfe zu machen. 33 Er aber wandte sich um, blickte auf seine Jünger und fuhr Petrus an: Fort mit dir, Satan, hinter mich! Denn nicht Göttliches, sondern Menschliches hast du im Sinn.

Nachfolge und Lebensgewinn

34 Und er rief das Volk samt seinen Jüngern herbei und sagte zu ihnen: Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, und so folge er mir. 35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten. 36 Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und dabei Schaden zu nehmen an seinem Leben? 37 Was hätte ein Mensch denn zu geben als Gegenwert für sein Leben?

Überleitung Lied

Das Geheimnis des Christus, glaube ich, besteht darin, dass er (in philosophischer Sprache gesagt) „vom Grund des Seins nicht entfremdet war.“ (Tillich nach Drewermann 570).

Er war Mensch wie wir, aber nie von Gott getrennt. Er hat radikal nach den Worten gelebt, die wir nun singen:

„Be still, know that I am God.“
„Sei still, wisse, ich bin Gott.“

Lied: „Be still, know that I am God“

Predigt

„Du bist der Messias“, sagt Petrus – die Worte sind als Petrus-Bekenntnis berühmt geworden. Das hebräische Wort „Messias“ – übersetzt: „Gesalbter“ – heisst auf Griechisch: „Christus“. Auf diesem Bekenntnis des Petrus: „Du, Jesus, bist der Christus“, beruht das Christentum.

Indessen ist das Bekenntnis missverständlich.

Was ein Messias ist, war zu jener „Zeitenwende“ nämlich umstritten. Es gab solche, die glaubten, der Messias werde Israel mit Feuer und Schwert aus der römischen Fremdherrschaft befreien. Oder zumindest als charismatischer, geistbegabter Wunderheiler an Leib und Seele Erkrankte von ihren Bresten befreien.

Markus sieht das anders: Gewiss, im seinem Evangelium geschehen Erlösung und Heilung, und die Gleichnisse Jesu erzählen von einer befreiten Welt, die durchdrungen ist vom göttlichen Licht.

Doch all dies liegt unter einem Schleier des Geheimnisses – nirgends wird publik gemacht, dass Jesus der Messias, der Christus ist. In dem Augenblick, wo Petrus die Augen aufgehen, sagt Jesus, er soll niemandem etwas darüber sagen.

Erst ganz am Ende des Evangeliums wird der Schleier gelüftet. Da steht ein Offizier der Besatzungsmacht unter dem Kreuz und bekennt – ausgerechnet er –: „Ja, dieser Mensch war in Wahrheit Gottes Sohn!“ (15, 39)

An diesem Ort, in diesen Worten wird der Messias sichtbar. Er wirkt, absolut ohnmächtig, keine Wunder. Er wird keine Kriege gewinnen. Doch er ist mit uns, sogar hier, auch hier, gerade hier, am tiefsten Punkt. Das ist der Messias des Markus.

Jesus selber hat sich nie als Messias, als Christus bezeichnet. Er hat von sich stets als vom „Menschensohn“ gesprochen. Auch in unserem Text, wo es heisst:

„Der Menschensohn muss vieles erleiden und … verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“

Auch „Menschensohn“ ist, wie „Messias“ und „Gottessohn“, ein Königs-Titel.

Jesus entnimmt den Menschensohn-Titel einer Vision des Propheten Daniel. In Daniel 7, 13f. heisst es:

„Ich schaute in den nächtlichen Schauungen, und sieh: Mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich …. Und ihm wurde Macht gegeben und Ehre und Königsherrschaft, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienen ihm. Seine Macht ist eine ewige Macht, die nie vergeht, und seine Königsherrschaft wird nicht untergehen.“

Auch „Menschensohn“ ist also, wie „Messias“, ein Hoheitstitel, ein Königstitel. Doch es gibt Unterschiede. Zunächst ist „Menschensohn“ in der damaligen Zeit viel weniger bekannt als „Messias“. Der Titel ist weniger definiert, weniger fixiert, weniger „orthodox“ (Schweizer). Er ist neu und ungewohnt – und eben so geeignet, das Neue zur Sprache zu bringen, was Jesus meint und lebt.

Und weiter: „Menschensohn“ in der Muttersprache Jesu bedeutet eigentlich ganz einfach „Mensch“ – und wird oft in diesem Sinn gebraucht, nicht als Titel. Das, stelle ich mir vor, ist der tiefe Grund, warum Jesus sich selber so bezeichnete – als Menschen, „in allem uns gleich“, wie es in der Bibel heisst, in der Grösse und Not, die unser Dasein auf Erden ausmacht.

Als Mensch, sagt Jesus weiter, steige er hinab in die tiefsten Tiefen, die Abgründe des Menschseins, hinab in Leiden, in Folter, in Verwerfung, in den Tod hinein:

Der Mensch muss vieles erleiden und … verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

Gemäss christlichem Glauben ist es Gott selber, der da hinabsteigt, Gott, eben, als „Mensch“, hinein bis in das Reich des Todes, geht hinein in die Hölle.

Das MUSS geschehen, sagt Jesus. Es muss geschehen, denn dann, wenn Gott ganz unten ist, gibt es keinen Bereich mehr, der hinausfällt aus der göttlichen Wirklichkeit. Alles, alles ist durchdrungen von göttlichem Licht. Und alles wird hineingeholt ins göttliche Licht – denn, so heisst es, „der Mensch“ wird nach drei Tagen auferstehen, aufsteigen aus dem Reich des Todes, hinein in die Ewigkeit.

„Presst o presst“, so heisst es in einem Gedicht der grossen deutsch-jüdischen Lyrikerin Nelly Sachs, das mir in den irren Zeiten, in denen wir leben, immer mal wieder in den Sinn kommt,

„presst o presst
an der Zerstörung Tag
an die Erde das lauschende Ohr
und ihr werdet hören,
durch den Schlaf hindurch werdet ihr hören,
wie im Tode das Leben beginnt.“ ---

Petrus, dem Jünger, dem Schüler, dem Freund und Weggefährten von Jesus, gefällt das nicht. Leiden, Scheitern, Tod – das passt nicht in sein Konzept eines königlichen Messias, der Israel aus der Fremdherrschaft befreit, der Jerusalem reinigt von allen Sündern und dem der Herr der Heerscharen die Feinde als Schemel unter die Füsse stellt. So heisst es in Psalm 110, wo Gott zum Messias die folgenden fürchterlichen Worte spricht:

„Setze dich zu meiner Rechten,
bis ich hinlege deine Feinde
als Schemel deiner Füsse.
Das Zepter deiner Macht
wird der Herr ausstrecken …;
herrsche inmitten deiner Feinde. …
Der Herr ist zu deiner Rechten,
er zerschmettert Könige am Tag seines Zorns.
Er hält Gericht unter den Völkern, es häufen sich die Leichen,
er zerschmettert Häupter weithin auf Erden.“
(Psalm 110, 1-2.5-6)

Das sind widerliche Verse – auch sie stehen in der Bibel. Man ist geneigt zu sagen, es seien „satanische Verse“. Tatsächlich bezeichnet Jesus seinen Freund Petrus als „Satan“, also als Widersacher der Sache Gottes.

Indessen sagt Jesus zu diesem „Satan“ nicht etwa, er soll zur Hölle fahren und sich nie wieder blicken lassen. Vielmehr sagt er: „Hinter mich!“ Im griechischen Urtext ist der Wortlaut genau derselbe wie ganz am Anfang, als Jesus Petrus und Andreas von ihren Fischernetzen weg in die Nachfolge rief. „Mir nach“, sagte er damals, genau übersetzt: „Hinter mich“! Selbst den Satan zieht Jesus Christus in seinen Schlepptau, ruft ihn in seine Nachfolge, seine Spur. Die Spur führt hinein ins ewige Leben, in unbegrenzte Lebendigkeit.

Volk und Jünger ruft Jesus zu sich, und mit ihnen das Gottesvolk, die Kirche, die Menschheit, die ganze Welt – und nun folgt eine Reihe von Spitzensätzen.

Jenen, die mit Zen-Buddhismus vertraut sind, sei gesagt: Das hier sind veritable Koan, kognitiv nicht lösbare Rätselsätze, an denen ich mir in der vergangenen Nacht die Zähne ausgebissen habe:

Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, und so folge er mir.

Eugen Drewermann, der bekannte zeitgenössische Theologe, der auch Psychoanalytiker ist, schreibt zurecht, dieser Vers lasse „sich hervorragend dazu verwenden, eine Ideologie masochistischer Unterdrückung und Unterwerfung zu etablieren“.

Zurecht betont Drewermann:

„Menschen, die nie gelernt haben, selber zu leben, können nicht auf sich selber ‚verzichten‘; sie müssen im Gegenteil zu allererst einmal lernen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, und statt sich selber zu ‚verleugnen‘, müssen sie als erstes die Erlaubnis erhalten und die Fähigkeit ausbilden, sich selber zu bejahen. Für diese Freiheit des Menschen, für sein Glück ist Jesus eingetreten. Keinesfalls sah er im Leid eine ursprüngliche, in sich berechtigte oder gar notwendige Form des Gottesverhältnisses.“ (nach 578)

Das sind wichtige und ernst zu nehmende Bedenken gegenüber dem Wort von der Selbstverleugnung und der Kreuzesnachfolge.

Indessen gibt es, wie Drewermann sagt, verschiedene Krankheiten und verschiedene Medikamente. Es gibt nicht nur Ich-Schwache auf dieser Erde. Viele von uns Erwachsenen haben ein festes, manche sogar ein fettes Ego. UNS gelten diese Worte Jesu von der Kreuzesnachfolge. Die Worte weisen in jene Dimension, die in dem Lied anklingt, das wir gesungen haben:

„Be still, know that I am God.“
„Sei still, wisse, ich bin Gott.“

Wenn mein Ego still wird, entsteht Raum für eine Wirklichkeit, die unendlich viel grösser ist als ich.

Der deutsche Mönch und Mystiker des Mittelalters Meister Eckehart hat das mit Worten, die jenen Jesu an Radikalität in nichts nachstehen, „Vernichtung“ und „Zugrunde-Gehen“ des Ichs genannt.

Das Zugrundegehen führt hinab auf den grundlosen Grund Gottes, in dem ich geborgen, getragen, geliebt bin. Und erlöst, geheilt, befreit. Und gerettet, wie es im nächsten Vers heisst:

„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten.
Ursprünglich, in Jesu Mund, lautete der Spruch noch knapper, kürzer, paradoxer:

„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert, wird es retten.“

Um diesen Vers zu verstehen, ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass das Wort, das hier mit „Leben“ übersetzt ist, im griechischen Urtext „Psyche“ heisst, was nicht nur Leben, sondern auch Seele bedeutet. Wer sein Leben retten will, also seinen Besitz, Karriere, Status, Sicherheit, Sucht auch… der wird seine Seele verlieren. Wer aber all dies loslässt, wird seine Seele gewinnen.

In der Forschung sagt man, in einem Erweiterungsprozess sei dann „um meinetwillen“ und „um des Evangeliums willen“ dazu gekommen. Der Sinn ändert sich dadurch nicht.

Eduard Schweizer, mein wichtigster theologischer Lehrer, hat das wirklich Wichtige, wie ich finde, schön zur Sprache gebracht:

„Gemeint ist ein Leben der Nachfolge, das nur möglich ist hinter dem her, der selber sein Leben für alle verschenkt hat; also ein Leben, in dem Jesus Christus so Zentrum geworden ist, dass alles Niedrig- und Hochsein (alles Vergleichen, jeder Erfolg) den Menschen nicht mehr bestimmt, weil er, ausgerichtet auf Gott, von sich selbst frei geworden ist.“ (nach 95)

Niedrig oder hoch, erfolgreich oder gescheitert, es kommt nicht draufan – ich bin frei, radikal frei, ausgerichtet auf Gott, hinter ihm her, dem „Menschen“ Jesus Christus.

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Wir kommen zu den letzten Versen des heutigen Textes:

Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und dabei Schaden zu nehmen an seinem Leben? Was hätte ein Mensch denn zu geben als Gegenwert für sein Leben?

Man hat diese Worte schön als „Magna Charta der Botschaft vom unendlichen Wert jeder Menschenseele“ bezeichnet (Harnack; nach Gnilka 29):

Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und dabei Schaden zu nehmen an seiner Seele? Was hätte ein Mensch denn zu geben als Gegenwert für seine Seele?

Das griechische Wort, das einmal mit „Seele“, das andere Mal mit „Leben“ übersetzt wird, lautet, wie erwähnt, „Psyche“. Sie ist nicht, wie in der griechischen Philosophie, die vom Leib getrennte unsterbliche Seele. Sie ist aber auch nicht auf das diesseitige Leben beschränkt. Eduard Schweizer schreibt:

„Man kann ‚Seele‘ und ‚Leben‘ nicht so einfach trennen. Das wirkliche Leben, auch das irdisch-natürliche, findet man erst im Sich-verschenken. … Leben, wie es gemeint ist, ist nur in der Hingabe zu finden…“ (nach 95)

„Solches Leben“, schreibt Eduard Schweizer weiter, „wird mit dem Tod nicht abbrechen, weil es schon Gott gehört“. Solches Leben hat teil am göttlichen Leben, es ist selbst göttliches Leben. Meine kleine Seele ist Teil der Weltenseele.

Kaiseraugst, 26. Februar 2023

Noch einmal: Eins sein mit Christus: Vortrag über Mk 8, 27-37

8, 27 Und Jesus und seine Jünger zogen weg in die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Unterwegs fragte er seine Jünger: Für wen halten mich die Leute? 28 Sie sagten zu ihm: Für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für einen der Propheten. 29 Da fragte er sie: Und ihr? Für wen haltet ihr mich? Petrus antwortet ihm: Du bist der Messias! 30 Da schärfte er ihnen ein, niemandem etwas über ihn zu sagen.

Ortsangaben im Mk sind oft interessant. Cäsarea Philippi ist auf der Wanderung Jesu der von Jerusalem am weitesten entfernte Punkt (Gnilka 14). Von nun an beginnt der Weg nach Jerusalem, ins Zentrum.

Weiter steht Cäsarea Philippi auf der Grenze zwischen heiligem und heidnischem Land (Schweizer 92). Das Bekenntnis, das sich in unserem Text herauskristallisiert, hat Gültigkeit nach beiden Seiten hin.

Und schliesslich gilt es auch dies zu beachten: Jesus stellt die Frage nach seiner Identität „auf dem Weg“, „unterwegs“. Seine ganze Existenz ist die eines Wandernden.

Die Frage, für wen ihn die Leute („Menschen“) halten, wird mit drei Volksmeinungen beantwortet. Es sind die höchsten Würdenamen, die ihm zugesprochen werden. Man hält ihn für einen wiedergekehrten Propheten der Vergangenheit oder für einen, der im Geist der alten Propheten predigt. „Höher geht es kaum mehr“, schreibt Schweizer dazu.

Und doch sind die Menschen in ihren Konzepten und begrenzten Vorstellungen gefangen. Diese transzendiert Petrus mit seinem Bekenntnis, das, stelle ich mir vor, als tiefe Erleuchtungserfahrung in ihm durchbricht, aus ihm herausbricht: „Du bist der Messias, der Christus, der Gesalbte!“

Das anschliessende Schweigegebot (V. 30) gibt dem Bekenntnis zusätzliches Gewicht. Darin leuchtet das „Messiasgeheimnis“ auf, jenes Konzept auf, welches das ganze Markusevangelium prägt.

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Es gibt zwar Kommentator*innen, die der Meinung sind, das Mk sei ein Sammelsurium von älterem Traditionsgut, welches der Evangelist verschriftlicht habe. Seine grosse Leistung sei das Festhalten von disparatem Traditionsgut gewesen.

Mir gefällt die Theorie besser, dass das Markusevangelium sehr wohl einer eigenen theologischen Konzeption folgt. Diese lässt sich zusammenfassen in eben diesem Begriff des „Messiasgeheimnises“ und gehört zum existenziell Bedeutsamsten, was die Bibel, jedenfalls für mich, zu bieten hat.

Wer den ersten Teil des Markusevangeliums liest, stellt fest, dass Jesus seine Umwelt konsequent mit einem Schweigegebot belegt. Die ersten, die ihn in seinem wahren Wesen erkennen, sind sinnigerweise die Dämonen. Sie schreien: „Du bist der Sohn Gottes!“ Er schreit zurück, sie sollen das für sich behalten.

(Das gleiche Wort, „anschreien“, erscheint auch in unserem Text; es ist hier sanfter übersetzt mit „einschärfen“.)

Auch denen, die er heilt, gebietet er, das nicht in die Welt hinauszuposaunen. Über den Gleichnissen Jesu liegt ein Schleier des Geheimnisses. Dasselbe gilt für sein ganzes Leben.

Doch nun scheint ihn Petrus zu erkennen: „Du bist der Messias“, ruft er aus. Das hebräische Wort „Messias“ – übersetzt: „Gesalbter“ – heisst auf Griechisch: „Christus“. Auf diesem Bekenntnis des Petrus: „Du, Jesus, bist der Christus“, beruht das Christentum.

Indessen ist das Bekenntnis missverständlich. Denn was ein Messias ist, war zu jener Zeitenwende umstritten. Es gab solche, die glaubten, der Messias werde Israel mit Feuer und Schwert aus der römischen Fremdherrschaft befreien. Oder zumindest als rechter Wundermann an Leib und Seele Erkrankte von ihren Bresten befreien.

Das markinische Messiaskonzept ist ein anderes: Gewiss, da geschehen Erlösung und Heilung, und die Gleichnisse Jesu erzählen von einer befreiten Welt, die durchdrungen ist vom göttlichen Licht. Doch all dies liegt unter besagtem Schleier des Geheimnisses. Der Schleier wird erst ganz am Ende gelüftet. Da steht ein Offizier der Besatzungsmacht unter dem Kreuz und bekennt – ausgerechnet er –: „Ja, dieser Mensch war in Wahrheit Gottes Sohn!“ (15, 39) An diesem Ort, in diesen Worten wird der Messias sichtbar. Er wirkt, absolut ohnmächtig, keine Wunder. Er wird keine Kriege gewinnen. Doch er ist mit uns, sogar hier, auch hier, gerade hier, am tiefsten Punkt. Das ist der Messias des Markus.

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Kehren wir nach dem Exkurs über das Messiasgeheimnis zurück zu unserem Text. Wir gehen weiter zum zweiten Teil:

31 Und er begann sie zu lehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten und den Hohen Priestern und den Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. 32 Und er sprach das ganz offen aus. Da nahm ihn Petrus beiseite und fing an, ihm Vorwürfe zu machen. 33 Er aber wandte sich um, blickte auf seine Jünger und fuhr Petrus an: Fort mit dir, Satan, hinter mich! Denn nicht Göttliches, sondern Menschliches hast du im Sinn.

„Er begann, sie zu lehren“, heisst es zu Beginn. Im Markusevangelium ist es nur Jesus, der „lehrt“ (Schweizer 23). Das, was er nun sagt, sind Worte von höchster Autorität, von letzter Gültigkeit.

Merkwürdigerweise spricht er nicht vom „Messias“, sondern vom „Menschensohn“. Der Messias-Titel begegnet im Markusevangelium nur selten, insgesamt, was wohl kein Zufall ist, genau 7 Mal (Dschulnigg 231) – und hier erst zum zweiten Mal nach der ersten Nennung im ersten Vers des Evangeliums. Auch beim Menschensohn-Titel lässt sich über Zahlen spekulieren: Er erscheint insgesamt 14, also 2x7 Mal (Dschulnigg 94). Anders als der Messias-Titel erscheint der Menschensohn-Titel nur im Munde Jesu.

Warum Jesus von sich als dem Menschensohn spricht, ist nicht klar. Mir leuchtet die These ein, dass er sich damit der gängigen, der „orthodoxen“ (Schweizer 93) Terminologie entzieht. Der Titel des „Menschensohns“ ist neu und ungewohnt – und eben so geeignet, das Neue zur Sprache zu bringen, was Jesus meint und lebt.

Möglicherweise entnimmt Jesus den Meschensohn-Titel einer Vision des Propheten Daniel. In Daniel 7, 13f. heisst es:

Ich schaute in den nächtlichen Schauungen, und sieh: Mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich, …. Und ihm wurde Macht gegeben und Ehre und Königsherrschaft, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienen ihm. Seine Macht ist eine ewige Macht, die nie vergeht, und seine Königsherrschaft wird nicht untergehen.

Zunächst bringt Jesus mit dem Menschensohn-Titel seine Souveränität zur Sprache: Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat, der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben. (2, 10.26)

Doch nun geschieht eine radikale Wende in dem, was der Menschensohn ist: Er leidet, er wird verworfen, er stirbt. All dies steht unter einem geheimnisvollen „Müssen“. Auch dafür gibt es alttestamentliche Bezüge, in den Psalmen ist die Rede vom leidenden Gerechten:

„Der EWIGE ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens,
hilft denen, die zerschlagenen Geistes sind.
Zahlreich sind die Leiden des Gerechten,
doch aus allem befreit ihn der EWIGE.“ (34, 19f.)

Vom Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist die Rede, mit demselben Wort (Psalm 118, 22f.)

Und schliesslich ist an die geheimnisvollen Gottesknechtslieder des Propheten Jesaja zu erinnern. Da wird von einer als „Gottesknecht“ bezeichneten Gestalt geschrieben:

Verachtet war er und von Menschen verlassen,
ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut
und wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt,
ein Verachteter, und wir haben ihn nicht geachtet. (53, 3)

V. 31 ist von einer Dreierstruktur geprägt: erleiden-verworfen werden-getötet werden; Älteste-Hohepriester-Schriftgelehrte; Auferstehung nach drei Tagen – nicht am dritten Tag, übrigens, was deutlich macht, dass es bei der Auferstehung am dritten Tag oder nach drei Tagen um etwas Symbolisches geht, nicht um ein historisches Geschehen. Die Drei ist eine Zahl Gottes, die Zeit des Christus im Totenreich ist „Gottes Zeit“ (Eckey 288).

Auffällig ist weiter, dass der Menschensohn – aktiv – auferstehen wird, nicht wie sonst – passiv – auferweckt werden wird. Im Kontrast zum Ausgeliefertsein kommt hier die tiefer liegende Souveränität des Menschensohns zur Sprache.

All dies steht unter einem göttlichen MUSS. Es MUSS so geschehen – es ist Gott selber, der in die tiefsten Tiefen hinabsteigt, damit wir auch dort nicht allein sind. Damit das Dunkel sich hineintransformiert in Licht. Und auch wir uns hineintransformieren in göttliches Leben.

„Ganz offen“ sprach Jesus über sein Schicksal, heisst es weiter (V. 32) – anders als in den Gleichnissen, über denen ein Schleier des Geheimnisses liegt. Hier sei, heisst es in einem Kommentar, „direkte Rede von Gott“ zu hören (Schweizer 93).

Petrus gefällt das nicht. Leiden, Scheitern, Tod – das ist für ihn nicht zusammenzudenken mit göttlicher Gnade. Göttliche Gnade zeigt sich doch in einem langen Leben, in beruflichem Erfolg, Reichtum und vielen Nachkommen. Es sind menschliche Gedanken, die Petrus denkt. Gottes Gedanken sind andere.

„Er fing an, Jesus Vorwürfe zu machen“, heisst es von Petrus. Das entsprechende griechische Verb ist jenes, mit dem sich Jesus und die Dämonen anzuschreien pflegen. Mit welchem zuvor (V. 30) Jesus die Jünger mit dem Schweigegebot belegte. Und mit welchem er Petrus zurückweist. Im griechischen Urtext kommt das Verb auf engstem Raum dreimal vor:

„Er fuhr Petrus an: Fort mit dir, Satan, hinter mich! Denn nicht Göttliches, sondern Menschliches hast du im Sinn.“

„Hinter mich“ ist dasselbe Wort, mit dem Jesus einst, ganz zu Beginn des Evangeliums, Petrus und Andreas in die Nachfolge rief. Und damit ist die Überleitung zum letzten Abschnitt geschaffen, in dem es um die Nachfolge geht.

Während sonst jeweils die Bewegung vom grösseren zum kleineren Kreis geht, dem dann eine besondere Belehrung gegeben wird, ist es jetzt umgekehrt: Der Kreis dehnt sich aus, von Petrus über die Jünger bis hin zum Volk. Das, was nun folgt, gilt allen, „nicht nur einer Sondergruppe“ (Schweizer):

34 Und er rief das Volk samt seinen Jüngern herbei und sagte zu ihnen: Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, und so folge er mir. 35 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten. 36 Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und dabei Schaden zu nehmen an seinem Leben? 37 Was hätte ein Mensch denn zu geben als Gegenwert für sein Leben?

V. 34 weist mit Wortbezügen voraus in die Passionsgeschichte, auf Petrus als negatives Beispiel und auf Simon von Kyrene als positives Beispiel. Von Petrus heisst es, er „leugnete“, mit dem Nazarener bzw. einer von ihnen gewesen zu sein (14, 66ff.). Von Simon von Kyrene heisst es, er „trug ihm das Kreuz“.

Eduard Schweizer weist in einer tiefsinnigen Wendung darauf hin, dass „Verleugnen“ bei Petrus bedeutet: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Eben dieser Satz gilt für mich selber, wenn ich mich selber verleugne:

„‘Ich kenne den Menschen nicht‘, bezeichnet also eine Freiheit von sich selbst und allen Sicherungen, ob sie irdischer Besitz oder Anspruch auf himmlischen Lohn heissen…“ (95)

Es sind Zen-Koan-mässig radikale und paradoxe Worte, die Jesus da sagt. Doch auch in der Deutschen Mystik finden sich ähnliche Aussagen, etwa die folgende des von mir bekanntlich hochgeschätzten Johannes Tauler:

„Wer den Grund des Nichts-seins erreichen könnte, der hätten den nächsten, kürzesten, geradesten und sichersten Weg zur höchsten und innersten Wahrheit gefunden, die man auf Erden zu erlangen vermag. Dazu ist niemand zu alt oder zu schwach, zu ungebildet oder zu jung, zu arm oder zu reich; zu diesem: ‚Ich bin nichts!‘. Was für ein unaussprechliches Sein liegt in diesem ‚Ich bin nichts‘!“ (102)

Der nächste Vers, V. 35, treibt die Paradoxie auf die Spitze. In seiner ursprünglichen, auf Jesus zurückgehenden Form hiess er:

„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer sein Leben verliert, wird es retten.“

Im Judentum gibt es ganz ähnliche Sprüche:

„Was soll der Mensch tun, damit er lebe? Sie antworteten: Er töte sich selbst! Und was soll der Mensch tun, damit er sterbe? Sie antworteten: Er lebe für sich selbst!“ (Gnilka 24)

Und auch hier gibt es verwandte Gedanken in der Deutschen Mystik. So sagt Meister Eckehart:

„Wer sich selber gelassen und nichts für sich behalten hat, der hat alles; denn nichts haben, das ist alles haben.“

Es ging Jesus um ein Verlieren und Gewinnen der eigenen Existenz in der Beziehung zu Gott. In einem zweistufigen Erweiterungsprozess ist dann das „um meinetwillen“ und „um des Evangeliums willen“ dazu gekommen. Das „Evangelium“ auf der letzten Stufe ersetzt und vertritt den „irdischen Jesus“, der nicht mehr da ist.

In der Tiefe meinen alle Stufen dasselbe. Eduard Schweizer hat es, wie ich finde, schön zur Sprache gebracht:

„Gemeint ist ein Leben der Nachfolge, das nur möglich ist hinter dem her, der selber sein Leben für alle verschenkt hat; also ein Leben, in dem Jesus so Zentrum geworden ist, dass alles Niedrig- und Hochsein (alles Vergleichen, jeder Erfolg) den Menschen nicht mehr bestimmt, weil er, ausgerichtet auf Gott, von sich selbst frei geworden ist.“ (nach 95)

Schliesslich noch ganz kurz zum Doppelspruch V. 36-37: Er besteht aus zwei rhetorischen Fragen, die beide mit „nichts“ zu beantworten sind. Vers 35 spricht allgemein von Lebens-Sicherung, hier wird das konkretisiert in Bezug auf die Illusion der Lebenssicherung durch Reichtum.

Auch das ist, wie schon der vorhergehende Vers, uralte alttestamentlich-weisheitliche Tradition. Der Spruch bezieht sich deutlich auf Psalm 49, wo es zum Beispiel heisst:

„Keiner kann sich freikaufen bei Gott,
zu hoch ist der Preis für ihr Leben,
für immer muss er es lassen.“ (V. 8f.)

Wie Schafe ziehen die Reichen ins Totenreich,
der Tod weidet sie,

Ihre Gestalt zerfällt,
das Totenreich ist ihre Bleibe.
Gott aber wird mein Leben loskaufen,
aus der Gewalt des Totenreichs nimmt er mich auf. (V. 15f.)

Man hat die Verse 36f. schön als „Magna Charta der Botschaft vom unendlichen Wert jeder Menschenseele“ bezeichnet (Harnack; Gnilka 29). Das Wort, das einmal mit „Seele“, das andere Mal mit „Leben“ übersetzt wird, ist Psyche. Es ist nicht, wie in der griechischen Philosophie, die vom Leib getrennte unsterbliche Seele. Sie ist aber auch nicht auf das diesseitige Leben beschränkt. Eduard Schweizer schreibt:

„Man kann ‚natürliches‘ und ‚religiöses‘ Leben nicht so einfach trennen. Das wirkliche Leben, auch das irdisch-natürliche, findet man erst im Sich-verschenken. … Leben, wie es gemeint ist, ist nur in der Hingabe zu finden… Solches Leben wird mit dem Tod nicht abbrechen, weil es schon Gott gehört“ (nach 95), selber würde ich vielleicht sagen, weil es teilhat am göttlichen Leben, weil es selbst göttliches Leben ist.

Vortrag per Zoom im Februar 2023

Ein Blick ins Änedraa: Predigt über die "Verklärung Jesu" (Mk 9, 2-8)

Einleitung

Seit ein paar Monaten befassen wir uns mit dem Markusevangelium (Mk). Der australische Musiker und Dichter Nick Cave (* 1957) schreibt in seiner tiefgründigen Einleitung zu diesem Buch:

„Christus hat verstanden, dass wir als Mensch immer von der Schwerkraft zu Boden gezogen werden, und durch sein Beispiel hat er unserer Fantasie die Freiheit gegeben, aufzusteigen und zu fliegen.“

Vor einer Woche predigte ich über jenen Text, der die Passionsgeschichte eröffnet. Darin kündet Jesus erstmals sein Leiden und Sterben an. Seine Worte wirken tatsächlich wie die „Schwerkraft“: Sie ziehen, hinunter, zu „Boden“.

Doch nun, gleich anschliessend an die Leidensankündigung, schildert Mk eine Lichterscheinung von unfassbarer Schönheit. Sie ereignet sich auf einem hohen Berg, ist also eine Gipfelerfahrung, in der man, mit den Worten von Nick Cave gesagt, „aufsteigt“ und „fliegt“, völlig losgelöst von der „Schwerkraft“.

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Die grosse französisch-jüdische Philosophin und Mystikerin Simone Weil (sie starb 1943 im Alter von 34 Jahren) befasste sich, wie Nick Cave, mit Schwerkraft und Freiheit. Sie schreibt:

„Überall dort, wo die Wirkkraft des übernatürlichen Lichtes abwesend ist, gehorcht alles mechanischen Gesetzen, die ebenso blind und präzis sind wie die Fallgesetze der Körper.“

Unsere Freiheit ist, sagt Simone Weil, an das übernatürliche Licht gebunden, an Gott:

„Wenn ein Mensch sich von Gott abkehrt, liefert er sich einfach der Schwerkraft aus. Er glaubt dann noch zu wollen und zu wählen, aber er ist nur noch eine Sache, ein fallender Stein.“

Umgekehrt:

„Gott hat es so eingerichtet, dass seine Gnade, wenn sie in das innerste Zentrum eines Menschen eindringt und von dort sein ganzes Wesen durchleuchtet, ihm gestattet, … auf dem Wasser zu wandeln.“ (nach Drewermann 586f. A1)

„Auf dem Wasser wandeln“, sagt Simone Weil, „fliegen“, sagt Nick Cave, unser heutiger Predigttext spricht von „glänzend weissen Kleider, die weiss werden, wie kein Färber auf Erden sie weiss machen kann“ – all diese Bilder weisen in die Transzendenz, ins Äedraa, in eine Dimension, wo wir nicht mehr gebunden sind an die Grenzen unserer conditio humana, unserer menschlichen Befindlichkeit hier auf Erden. All diese Bilder weisen, christlich gesprochen, hinein ins Auferstehungsleben.

Wir hören aus dem Markusevangelium Kap. 9 die Verse 2-9 und singen anschliessend ohne weitere Ankündigung das Lied: „Morgenglanz der Ewigkeit“ – besonders die vierte Strophe passt zu unserem Text und Thema:

„Ach du Aufgang aus der Höh,
gib, dass auch am Jüngsten Tage
unser Leib verklärt ersteh
und, entfernt von aller Plage,
sich auf jener Freudenbahn
freuen kann.“

Geschrieben hat dieses Lied ein Dichter mit dem schönen Namen Christian Knorr von Rosenroth. Auch der Text des Lieds klingt, wie dieser Name, etwas verschnörkelt, er stammt aus dem Barockzeitalter – aber ich liebe ihn :-)

Wir singen also im Anschluss an die Lesung bei Nr. 572 alle fünf Strophen und hören nun die Erzählung von der Verklärung Jesu:

Text: Die Verklärung Jesu (Mk 9, 2-9)

9, 2 Und sechs Tage danach nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und den Johannes mit und führt sie auf einen hohen Berg, sie allein. Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, 3 und seine Kleider wurden glänzend, ganz weiss, wie kein Färber auf Erden sie weiss machen kann. 4 Und es erschien ihnen Elija mit Mose, und sie redeten mit Jesus. 5 Da ergreift Petrus das Wort und sagt zu Jesus: Rabbi, es ist schön, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. 6 Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte, denn sie waren in Furcht geraten. 7 Da kam eine Wolke und warf ihren Schatten auf sie, und aus der Wolke kam eine Stimme: Dies ist mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören! 8 Und auf einmal, als sie um sich blickten, sahen sie niemanden mehr bei sich ausser Jesus.

Lied: „Morgenglanz der Ewigkeit“ (572, 1-5)

Predigt


Die Predigt hat die Form einer sogenannten Homilie, das heisst, ich folge dem Text Vers für Vers. Das gibt mir eine gewisse Struktur, eine gewisse Bodenhaftung in den schwindelerregenden Höhen, in die wir da geführt werden:

9, 2ab Und sechs Tage danach nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und den Johannes mit und führt sie auf einen hohen Berg, sie allein.

„Sechs“ ist eine seltene Zahl in der Bibel. Vermutlich ist mit „sechs Tage danach“ gemeint: Am siebten Tag, dem Tag der Vollendung – sieben ist die Zahl der himmlischen Vollkommenheit. Jedenfalls verweist die Zahl 6 auf einen zentralen Texte des Alten Testaments – nämlich jenen, wo Mose auf den heiligen Berg steigt, wo er von Gott die zehn Gebote empfing. Damals, heisst es, bedeckte die Wolke Mose sechs Tage lang:

„Dann stieg Mose den Berg hinan, und die Wolke bedeckte den Berg. Und der Lichtglanz des EWIGEN liess sich auf den Berg Sinai nieder, und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage lang. Und am siebten Tag rief er mitten aus der Wolke Mose herbei.“ (Ex 24, 15f.)

Viele Motive aus unserer Geschichte von der „Verklärung Jesu“ klingen hier an: Der Aufstieg auf den Berg, der Lichtglanz, die Wolke. Der Begleiter von Mose heisst, übrigens, Josua; in der griechischen Übersetzung lautet dieser Name: „Jesus“.

Und so weiter. All diese Bezüge sind nicht zufällig. Sie machen deutlich, dass es um etwas ganz Grosses geht in unserer Geschichte, wie damals, als Mose Sinai bestieg.

Deshalb sind es auch die drei Jünger, die den innersten Kreis um Jesus bilden, die ihn begleiten. In existenziellen Momenten in seinem Leben nimmt er diese drei, „sie allein“, zu sich. Das letzte Mal in Getsemani, wo Jesus kurz vor seinem Tod einsam betete und die drei Freunde in Tiefschlaf fielen. Auch heute, auf dem Berg, sind sie überfordert.

Schon im frühen Christentum wurde der „hohe Berg“ identifiziert mit dem Tabor, einem Berg in Galiläa, der sich als eindrucksvolle Kuppel aus der Ebene erhebt. Der Tabor galt schon in vorisraelitischer Zeit als heilig, und in den Psalmen heisst es in einem schönen Vers, der Berg Tabor juble über den Namen des EWIGEN (nach Eckey 297, A566).

Dass die frühe Christenheit den „hohen Berg“ in unserem Text mit dem Tabor identifiziert hat, passt auch deshalb, weil das hebräische Wort „Tabor“, wie Eugen Drewermann feststellt, „Nabel“ bedeutet. Tabor ist der Nabel der Welt:

„Fragt man, wo solch ein Berg gelegen haben könnte, so lässt sich nur sagen: am Mittelpunkt der Erde, oder vielmehr: überall dort, wo ein Mensch in das Zentrum seines Lebens tritt; nur dort befindet sich ein solcher ‚Berg‘ der (Verklärung). Es ist ein ‚Ort‘ in der Mitte des Daseins, ein existenzieller Standpunkt, an dem die irdischen Niederungen tief unter den Füssen zurückgelassen sind und der Blick frei wird für die Weite des Himmels. Die Mythen und die Märchen der Völker berichten immer wieder von derartigen heiligen Bergen, die man betritt auf dem Wege einer Seelenreise zu dem Ort, da der Himmel die Erde berührt.“ (nach 298)

Es gilt, sagt Drewermann, Abschied zu nehmen Flachland. Wenn Jesus die Jünger den Berg hinan führt, dann führt er es sie gleichsam aus der Horizontalen in die Vertikale:

„Man gelangt auf den Gipfel des Berges, indem man das Dasein in der ‚Ebene‘ überwindet und sein Leben in der Vertikalen ausspannt …“ (nach 298): „Bestimmt sind wir zur Höhe, zum Aufstieg, befähigt sind wir, unserer Seele Flügel zu verleihen.“ (nach 602)

Also: Der Weg führt auf den hohen Berg im Nabel der Welt, im Zentrum der Seele. Dort geschieht Folgendes:

2c Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, 3 und seine Kleider wurden glänzend, ganz weiss, wie kein Färber auf Erden sie weiss machen kann.

Im Hesychasmus, der mystischen Strömung innerhalb der orthodoxen Kirche, spricht man vom Taborlicht. Es ist dieses Licht, das damals auf dem Berg leuchtete, als die Kleider Jesu glänzend weiss wurden. Dieses Licht, heisst es im Hesychasmus, kann auch von der gereinigten, geläuterten Seele gesehen werden, wenn sie in einen Zustand tiefer Ruhe gelangt ist:

„Das Licht, das die Jünger bei der Metamorphose Christi umstrahlte und das jetzt den durch Tugend und Gebet gereinigten Geist erstrahlen lässt, ist das Licht der zukünftigen Welt […] Es gibt nur ein und dasselbe Licht, das den Aposteln auf dem Tabor erschienen ist, das den gereinigten Seelen jetzt erscheint und in dem das Wesen der zukünftigen Welt besteht.“ (nach Wikipedia)

So sagt es Gregorios Palamas, ein Mönch des 13. Jhrs, der auf dem Athos lebte – auch dies ein heiliger Berg. Gregorios Palamas gilt als Begründer des Hesychasmus.

Es ist dieses Taborlicht, welches das weisse Kleid des Engels umleuchtete, den die Frauen nach der Auferstehung Jesu am leeren Grab sahen (Mk 16, 5). Es ist dasselbe Licht, welches leuchtete, als Jesus zum Himmel auffuhr (Apg 1, 10f.). Und als Paulus in seinem sogenannten Damaskuserlebnis vom Pferd stürzte, war auch er geblendet von diesem hellen Licht (Apg 9, 1-9). Paulus sagt später, in seinem 2. Korintherbrief:

„Wir alle schauen mit enthülltem Antlitz den Lichtglanz Christi wie in einem Spiegel – und so werden wir verwandelt in die Gestalt, die er schon hat, aus Lichtglanz, in Lichtglanz hinein.“ (2. Kor 3, 18)

Nicht nur Christus wird also verwandelt, auch wir selber werden verwandelt, es ist Licht von Licht, göttliches Licht, in das auch wir hineingenommen, hineinverwandelt werden.

Und nicht nur Männer, übrigens, trotz der Männerlastigkeit unseres Textes. Im Kloster Töss bei Winterthur sahen Frauen dasselbe Licht. Die Nonne Sofia von Klingnau etwa schildert, wie sie den Bibelvers: „In deine Hände lege ich meinen Geist“ las:

„Und als ich diese Worte gelesen hatte, sah ich, dass ein Licht vom Himmel kam, das war unermesslich schön, und es umgab mich und durchleuchtete mich und durchglänzte mich ganz und gar, und mein Herz wurde plötzlich verwandelt und mit einer unsäglichen und seltsamen Freude erfüllt, so dass ich ganz und gar alle Trübsal und Qual vergass, die ich vorher gekannt hatte.“ (Buber 111)

Auch Sofia von Klingnau im Kloster Töss hat sich der Blick ins Änedraa eröffnet. Auch sie hat das Taborlicht gesehen. Wir alle werden es sehen, einst am Ende der Zeit. Und manchmal auch schon früher, hier, mitten im Alltag, mitten in unserer Welt.

In einem Kommentar steht die subtile Beobachtung, dass dieser Vergleich mit dem Färber, der ein so helles Weiss nicht hinkriegt, auf den „Horizont eines Dorfes“ (Lohmeyer, nach Grundmann 181) hinweist. Es ist eine kleine Welt, ähnlich vielleicht der Welt, in der wir selber leben, die hier durchsichtig wird, verwandelt wird hinein ins Licht der Ewigkeit.

4 Und es erschien ihnen Elija mit Mose, und sie redeten mit Jesus.

Elia und Mose – das sind zwei Lichtgestalten des Alten Testaments, beide haben das Licht gesehen. Elia wurde einst auf dem Feuerwagen in den Himmel entrückt. Und von Mose wird erzählt, wie er vierzig Tage und vierzig Nächte fastend auf dem Berg Sinai weilte und dort die zwei Tafeln mit den zehn Geboten aufschrieb:

„Als Mose vom Berg Sinai herabstieg, da wusste er nicht, dass die Haut seines Gesichts strahlend geworden war… Und sieh, die Haut seines Gesichts strahlte – so sehr, dass die Menschen sich davor fürchteten, ihm nahe zu kommen. Da legte er eine Hülle über sein Gesicht“ (Ex 34, 29ff.)

--- also eine Art Tarnkappe, die er nur abnahm, wenn er ins „Zelt der Begegnung“ eintrat, um dort mit Gott zu reden. Auch Mose hat das Licht gesehen, und indem er es sah, ist er diesem Licht selber ähnlich geworden, vom Licht erleuchtet, eine Licht-Aura ausstrahlend.

Elia und Mose „erschienen“, heisst es. Genau übersetzt würde es heissen: „Sie wurden sichtbar“ – mit einer passiven Formulierung, wie es vorher schon passiv hiess: „Er wurde verwandelt“, „seine Kleider wurden glänzend“. Man spricht von einem passivum divinum, einem Passiv, in dem Gott wirkt.

Hier, im Zentrum der Szene, handelt nur Gott. Jesus, Mose und Elia sind radikal passiv – gemäss dem Wort des deutschen Mystikers Johannes Tauler: „Soll Gott wahrhaftig in dir wirken, dann müssen alle deine Kräfte schweigen. Es geht hier nicht um ein Tun, es geht um ein Nichttun“ (nach 150). --- Petrus, wie könnte es anders sein, sieht das anders. Er meint, jetzt müsse gehandelt werden:

5 Da ergreift Petrus das Wort und sagt zu Jesus: Rabbi, es ist schön, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. 6 Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte, denn sie waren in Furcht geraten.

Petrus scheint wie Goethes Faust sagen zu wollen: „Verweile doch, du bist so schön!“ Er will den Augenblick festhalten, sich niederlassen in dieser Lichtung oben auf dem Gipfel. Doch der Blick ins Änedraa lässt sich nicht fotografieren, und irdische Hütten können das Jenseits nicht fassen.

Ein Kommentator vermutet, dass Petrus eine Kultstätte bauen will, einen Tempel, eine Kirche…, einen Ort, an dem das Geheimnis gefeiert und auch kontrolliert werden kann. Doch das geht eben nicht. Das Geheimnis ist unverfügbar.

Auch dass er Jesus Christus als „Rabbi“ anspricht, ist so eine Verwechslung der Ebenen. Ein Rabbi ist ein Religi-onslehrer; das hier ist eine völlig andere Dimension:

7 Da kam eine Wolke und warf ihren Schatten auf sie, und aus der Wolke kam eine Stimme: Dies ist mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören!

Die Wolke ist Zeichen göttlicher Gegenwart. In der Wolke erscheint Gott dem Mose auf dem Sinai, in einer Wolkensäule begleitet er das Volk durch die Wüste usw.

Wer von dieser Wolke überschattet ist, befindet sich im göttlichen Bereich. Der Schatten der Wolke symbolisiert dasselbe wie das göttliche Licht.

Aus dieser Wolke heraus spricht eine Stimme: „Dies ist mein geliebter Sohn“ – und das bedeutet: Jesus ist wahrhaft, wesenhaft eins mit Gott, ist „Gott von Gott“, wie es im Bekenntnis heisst, ist „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte“, wie wir zuvor gesungen haben. Das ist, tatsächlich, eine andere Dimension als der „Rabbi“, als den Petrus Jesus angesprochen hat.

Und doch, Jesus Christus ist auch dies, er ist auch Rabbi: er ist Lehrer, ist „Bergführer“, Wegbereiter, Leiter und Begleiter auf unserem je eigenen Weg ins Taborlicht oben auf dem Gipfel des Bergs.

Auf ihn, den Rabbi und Gottessohn, den wahren Menschen und wahren Gott, sollen wir hören, sagt die Stimme aus der Wolke. Es gilt, auf ihn zu hören, wenn er, Jesus Christus selber auf dem Berg spricht:

In seiner Bergpredigt spricht Jesus die Armen und die, die reinen Herzens sind, selig.
• Es gilt also, in der Nachfolge des Rabbi aus Nazaret, arm zu werden, materiell arm und auch und mehr noch „arm“ im Geist; es gilt, in der Seele einfach, ganz einfach, „einfältig“ zu werden.
• es gilt, „reinen Herzens“ zu werden – ehrlich, ohne falsche Absichten und Hintergedanken.

Das sind Wegweiser, die der Rabbi Jesus in seiner Bergpredigt gibt für unseren Pfad hoch zum Berg, in den Himmel, zu Gott:

„Selig die geistlich Armen –
Ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die reinen Herzens sind –
Sie werden Gott schauen.“ (nach Mt 5, 3.8)

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Der Schluss der Erzählung ist abrupt, plötzlich.

8 Und auf einmal, als sie um sich blickten, sahen sie niemanden mehr bei sich ausser Jesus.

Einen Augenblick lang haben wir in das Änedraa gesehen, in die Lichtwelt hinter dem Schleier und der Verkleidung. Dann, so plötzlich, wie er sich geöffnet hat, schliesst sich der Vorhang wieder. Der Abstieg vom Berg beginnt.

„Wir brauchen“, schreibt Drewermann, „ein solches Stück Himmel, um auf dieser Erde leben zu können, und viel öfter, als wir denken, beginnt der Ostermorgen mitten im Leben, längst vor dem Tod.“

Oben auf dem Berg und unten in der Tiefe: Bhüet eus, Gott!

Kaiseraugst, 5. März 2023

Das Reich Gottes annehmen wie ein Kind: Meditation über Mk 10, 15 anlässlich einer Taizéfeier

Eugen Drewermann schreibt in seinem Kommentar, es seien dies die „wunderbarsten Worte, die das Neue Testament uns überliefert hat“ (105f.):

„Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ (Mk 10, 15)

Paul Klee wurde einmal vorgeworfen, so wie er könne jedes Kind malen. Seine Antwort lautete: „Das ist es eben: Die Kinder können es!“ (nach Marti 211)

Was ist es, was die Kinder können?

Drewermann weist in seinem Kommentar scharf und beklemmender Aktualität darauf hin, dass es eine Form von Infantilität gibt, welche die Welt zerstört:

„Es ist eine Welt, in der infantil gebliebene Grosstuer den Ton angeben, eine Welt, in der die Angst von Mund zu Mund weiterge-reicht wird wie schlechte Atemluft in einem erstickend engen Zugabteil“ (110).

Was ist zu tun? Im Sinne Jesu, meint Drewermann, „kommt es darauf an, die Gefängnismauern dieser Welt der Icheinschränkung, der Doppelbödigkeit und der Entfremdung zu durchbrechen“ (ebd.).

Wenn die Mauern durchbrochen sind, ist der Weg frei, um mit dem inneren Kind in Kontakt zu kommen.

Das griechische Wort „Paidion“ bedeutet „Kind“ und auch „Kleinkind“, „Säugling“, „Neugeborenes“ (Schweizer 111).

Entsprechend kann „das Reich Gottes annehmen wie ein Kind“ bedeuten, wach, offen, neugierig, spontan zu sein wie das Kind im folgenden Text von Peter Handke:

„Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte, der Bach sei ein Fluss,
der Fluss sei ein Strom
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.
Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
sass oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Fotografieren.“ (Bauke 273)

Das griechische Wort „Paidion“ bedeutet, wie erwähnt, nicht nur „Kind“, sondern auch „Säugling“ und „Neugeborenes“. Und tatsächlich überliefert der Evangelist Johannes unseren Vers noch einmal anders: „Wer nicht von neuem geboren wird“, sagt er, „kann das Reich Gottes nicht sehen.“ (3, 3) – Das Neugeborene ist radikal abhängig, angewiesen, ausgeliefert auch. Drewermann schreibt:

„Ein Kind muss man lieben einfach dafür, dass es da ist; es hat noch nichts, es kann noch nichts, in seiner Welt zählen nicht die Differenzen von Besitz und Leistung. Ein Kind ist einfach nur, und es verlangt…, dass man es annimmt seines Daseins wegen.“

In diesen Modus des reinen Seins vor aller Leistung, des Urvertrauens vor jeder Bedingung und Beschränkung, in dieses Urvertrauen hinein weist uns Jesus. Es ist jener Zustand, in dem gilt:

„Be still. Sei still. Wisse, ich bin Gott.“

Lied: „Be still, know that I am God“

Kaiseraugst, 24. Februar 2023

"Heaven is a Wonderful Place": Predigt in der Osterzeit zur Frage der Auferstehung (Mk 12, 18-27)

Einleitung

"Heaven is a wonderful place
Filled with glory and grace
I want to see my savior's face
'Cause heaven is a wonderful place"

"Der Himmel ist ein wunderbarer Ort
Erfüllt von Herrlichkeit und Gnade
Ich möchte das Angesicht meines Retters sehen
Denn der Himmel ist ein wunderbarer Ort" -

so lautet der Song, den der Gospelchor im Anschluss an der Predigttext singen wird. Der Apostel Paulus sagt, dass wir unseren Weg im Glauben, nicht im Schauen gehen (2. Kor 5, 7). Dass der Himmel ein wunderbarer Ort sein soll, ist eine Aussage des Glaubens, nicht des Schauens.

In einem langen Gespräch erzählte mir Akira Tachikawa kürzlich sehr offen davon, wie er schon als Kind Angst vor dem Tod hatte. Die Reinkarnationslehre, wie sie ihm durch den Buddhismus in Japan vermittelt worden war, überzeuge ihn nicht wirklich. Später habe er viele Bücher gelesen, in denen Leute aufgrund von Erleuchtungs- und Nahtoderfahrungen genau zu wissen glauben, wie es im Jenseits aussehe. Doch die Zweifel bleiben. Er beneide seine Frau Irina, eine bulgarisch-orthodoxe Christin, für ihre Gewissheit, dass es ein Leben nach dem Tod gebe.

Das persönliche Statement zeigt: Die Debatte, die Jesus einst mit den Sadduzäern über die Auferstehung führte, ist auch heute noch aktuell.

Wir hören diese Debatte, wie sie im Markusevangelium Kap. 12, Verse 18-27 erzählt wird – und nachher die Antwort des Gospelsongs, die eben eine Antwort des Glaubens und nicht des Schauens ist: „Heaven is a wonderful Place“:

Text: Zur Frage nach der Auferstehung der Toten: Mk 12, 18-27

18 Und es kommen Sadduzäer zu ihm, die behaupten, es gebe keine Auferstehung; und sie fragten ihn: 19 Meister, Mose hat uns vorgeschrieben: Wenn einem der Bruder stirbt und eine Frau zurücklässt und kein Kind hinterlässt, dann soll sein Bruder die Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken. 20 Nun waren da sieben Brüder. Der erste nahm eine Frau, und als er starb, hinterliess er keine Nachkommen. 21 Da nahm sie der zweite und starb, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und ebenso der dritte. 22 Und alle sieben hinterliessen keine Nachkommen. Zuletzt, nach allen andern, starb auch die Frau. 23 In der Auferstehung nun, wenn sie auferstehen - wessen Frau wird sie sein? Alle sieben haben sie ja zur Frau gehabt.

24 Jesus sagte zu ihnen: Irrt ihr nicht darum, weil ihr weder die Schriften noch die Macht Gottes kennt? 25 Wenn sie nämlich von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel im Himmel. 26 Was aber die Toten betrifft, wenn sie auferweckt werden - habt ihr nicht gelesen im Buch des Mose, in der Geschichte vom Dornbusch, wie Gott zu ihm gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? 27 Er ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. Ihr irrt sehr.


Gospelchor: „Heaven is a Wonderful Place“

Predigt


„Zur Zeit Jesu standen sich zwei Gruppen gegenüber.
‚Es gibt eine Auferstehung der Toten‘, behaupteten die Pharisäer.
‚Es gibt keine Auferstehung‘, behaupteten die Sadduzäer.
Behauptung gegen Behauptung.“

So beginnt der grosse Berner Dichter-Pfarrer Kurt Marti in seiner einzigartig lakonischen Art seine Predigt über den Text, den wir zuvor gehört haben.

Behauptung steht also gegen Behauptung. Dass es um gelehrte, aber belanglose Debatten geht – das wird in diesem Text auf geradezu groteske Art und Weise deutlich. „Man redet und behauptet sich ins Hundertste und Tausendste hinein“, sagt Marti.

Als „hanebüchen“ bezeichnet er das „Geschichtchen“, das einem die Sadduzäer zur Untermauerung ihrer Sichtweise auftischen. Es ist eine Parodie, eine peinliche Posse. Vordergründig wird damit der Auferstehungsglaube lächerlich gemacht. Doch eigentlich machen sich die Sadduzäer damit selber lächerlich.

Fairerweise muss man sagen: Es gibt keine überlieferten Zeugnisse der Sadduzäer selber. Sie, diese einst zur einflussreichen Tempelaristokratie in Jerusalem gehörten, verschwanden nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 66 n.Chr. von der Bühne der Geschichte.

Die wenigen Zeugnisse, die es über sie gibt, stammen allesamt aus dem frühen Christentum und vom zeitgenössischen jüdischen Historiker Flavius Josephus. Beide standen den Sadduzäern kritisch gegenüber.

Ob die Sadduzäer also tatsächlich so „hanebüchen“ argumentiert haben, wissen wir nicht. Jedenfalls macht die Geschichte, wie sie hier erzählt wird, mit dieser Frau, die sieben Männer nacheinander heiratet, deutlich, wie die Frau im Patriarchat als Besitz verstanden wird. Sie wird herumgeschoben, verschachert, weitergereicht. Das Ziel des Konzepts der sogenannten Leviratsehe, welches dahintersteht, ist, Samen und Namen eines Mannes in seinem Volke weiter zu bewahren.

Der bekannte zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann schreibt in seinem Kommentar dazu mit heiligem Zorn:

„Als ob man mit Menschen so umgehen könnte, wie wenn sie Besitzstücke, Prunkstücke, Anstecknadeln, Trophäen, Skalps … wären! In dieser Weise verbriefter Besitzrechte weiterleben – das freilich kann man nicht mehr, wenn es die Ewigkeit gibt. Man kann die Würde, die Grösse, die unendliche Kraft der Freiheit eines jeden Menschen an unserer Seite nicht mehr verleugnen und nicht mehr schänden, wenn es die Ewigkeit gibt. Niemand ist dann mehr befugt, sich hinzustellen und zu sagen: meine Frau, mein Kind, mein Hund, mein Haus, mein Baum, mein Auto… Nichts gehört im Schatten der Ewigkeit letztlich uns selber, sondern wir alle miteinander gehören einzig Gott.“

Drewermann argumentiert fulminant für die individuelle Auferstehung:

„Der Glaube an die individuelle Unsterblichkeit … beruhigt und überwindet … die Angst vor der Nichtigkeit der Existenz. Alle Angst vor dem Tode ist letztlich eine Reaktion auf die Endlichkeit des individuellen Daseins, und eben diese Angst ist es, die dazu führt, sich … verzweifelt an das endliche Leben zu klammern. Einzig das Vertrauen in die Unendlichkeit der individuellen Person vermag das Getto des Unheils der irdischen Existenz aufzubrechen“ (nach 275).

Doch ist das wirklich eine Argumentation, die trägt? Dass man auf die „Unendlichkeit der individuellen Person“ vertrauen müsse, um die Angst vor dem Tod zu verlieren.

Manche wissen, dass ich Susi Fahrni, die Frau meines Vorvorgängers und ersten Pfarrers hier in Kaiseraugst sehr geschätzt habe. Dass ihre Ansichten für mich selber so etwas wie Fixsterne am eigenen Bewusstseinshorizont waren und sind.

Susi Fahrni hat mir kurz vor ihrem Tod einmal erzählt, dass sie in jungen Jahren in „frommen Kreisen“ verkehrt habe und der Überzeugung gewesen sei, dass es am Ende der Zeit eine Auferstehung der Toten geben werde.

Diese Überzeugung sei ihr irgendwann in ihrem langen Leben abhandengekommen. Sie habe über viele Jahre die Überzeugung der Sadduzäer geteilt, dass mit dem Tod alles zu Ende sei.

Doch in den letzten Jahren, da sei ihr eine andere Sichtweise nahegekommen: Dass sie als individuelle „Susi“ sich einst auflösen werde im ewigen, göttlichen Licht, im Meer der Unendlichkeit.

Das ist eine Sichtweise, die einem aus den östlichen Religionen, insbesondere aus dem Buddhismus bekannt ist. Dass es dieses mein Ich gar nicht gibt, dass dies eine Illusion ist, die sich auflöst in der Leere-Unendlichkeit.

Doch diese Sichtweise ist eben nicht nur östlich. Sie begegnet auch in unserer jüdisch-christlichen Welt, auch hier gibt es eine nicht-personale Dimension sowohl im Gottesbild wie im Bild des Menschen.

Oft wird sie weiblich dargestellt, diese nicht-personale Dimension, als „Schechina“, Einwohnung Gottes in allem im Judentum, als „Ruach“, göttliche Geistkraft, also die „3. Person“ der Trinität neben Gott „Vater“ und „Sohn“ im Christentum. Sie wohnt in mir, diese Ruach, als Atem, der mich belebt, Atemzug für Atemzug, vom Anfang bis zum Ende meines individuellen Lebens. Und dieser Atem Gottes wird weiter strömen, allüberall, in Zeit und Ewigkeit.

Ja, was gilt nun, die individuelle Unsterblichkeit, von der Eugen Drewermann so überzeugt ist, oder jene Unendlichkeit, die gerade das Gegenteil ist von meiner Individualität, meinem Ego?

Friedrich Schleiermacher, dieser grosse Philosoph und Theologe des 19. Jahrhunderts, sagt, die weitverbreitete Sehnsucht nach individueller Unsterblichkeit sei „ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider.“ Vielmehr:

In der Religion „strebt alles darauf hin, dass die scharf abgeschnittenen Umrisse unserer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, dass wir durch das Anschauen des Universums soviel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber (die Anhänger der individuellen Auferstehung) sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität.“ (nach Drewermann, ebd.)

Ich kann und will meine Sympathie für diese Sichtweise Schleiermachers, die jener des Buddhismus, der jüdisch-christlichen Mystik und Susi Fahrnis entspricht, nicht leugnen. Doch zletscht am Änd: Wer weiss es schon? Zurecht sagt Akira, auch von jenen, die Nahtoderfahrungen schildern und Verstorbene channeln – auch von ihnen ist noch niemand "drüben" gewesen.

„Wir werden sein wie die Engel“, sagt Jesus. Das bedeutet in allererster Linie: Wir wissen nicht, wie das sein wird, dort drüben im Änedraa. Denn: wir sind Söhne und Töchter der Erde, nicht des Himmels. Es ist diese Begrenztheit unseres Bewusstseins, die unsere spezifische Grenze und Grösse ausmacht. Es wird dort drüben, im Änedraa, möglicherweise ganz anders sein, als wir uns das vorstellen. Schön beschreibt ein Kommentar den Unterschied zwischen uns Menschen und den Engeln:

„Die Engel durchleben keine Geschichte nach irdisch-menschlichem Zeitverlauf, und so gibt es für sie keinen Wechsel der Generationen, keine Ehe und keine Nachkommen.“ (Schniewind)

„Engel durchleben keine Geschichte nach irdisch-menschlichem Zeitverlauf“, heisst es in dem Kommentar. Und das heisst umgekehrt: Wir Menschenkinder erleben eben diesen Zeitverlauf. Das macht unser spezifisch menschliches Dasein aus, die begrenzte Zeit, der Wechsel der Generationen.

In der vergangenen Woche haben wir Abschied genommen von zwei Menschen, einmal auf dem Waldfriedhof hier in Kaiseraugst, einmal in der reformierten Kirche Rheinfelden. Beide Male wurde von den Angehörigen der 23. Psalm gewünscht, in dem es heisst: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, ich fürchte kein Unglück“. In einer anderen Übersetzung heisst es: „Und ob ich schon wanderte im Todesschattental, ich fürchte kein Unglück --- denn du, Gott, bist bei mir“. Dieses Bei-mir-, Mit-mir-Sein Gottes, das ist die zentrale Aussage des 23. Psalms und der Bibel überhaupt. Dieses Bei-mir, Mit-mir-Sein Gottes, glaube ich, gilt zumindest als Möglichkeit über den Tod hinaus. Kurt Marti schreibt:

„Für Gott ist der Tod … keine Grenze, kein Ende. Wo wir am Ende, an der definitiven Grenze unserer Möglichkeiten angelangt sind, da bleibt für Gott alles offen, alles möglich, alles im Neuanfang. Uns bleibt abzuwarten, … wie Gott seine offenen Möglichkeiten realisieren wird.“

Die offenen Möglichkeiten gilt es, glaube ich, vertrauensvoll Gott zu überlassen. „Ich lasse mich gern überraschen“, sagte mir Susi Fahrni damals.

Worum wir aber hier schon, heute schon bitten können, ist, dass Gott mit mir unterwegs ist auf all meinen Wegen hier unten auf Erden.

"Just a closer walk with Thee,
Grant it, Jesus is my plea,
Daily walking close to Thee,
Let it be, dear Lord, let it be" –

so heisst es in dem Spiritual, den der Gospelchor nun singt im Nachklang der Predigt. Also sinngemäss:

Nur ein kleiner Spaziergang mit dir, hier, ganz in der Nähe, das, Jesus, ist meine Bitte an dich. Jeden Tag in deiner Nähe ein paar Schritte zu gehen.

Das gewähre mir, mein Jesus, heute und alle Tage meines Lebens. Und zletscht, heisst es am Schluss von Psalm 23 in der wunderbaren schweizerdeutschen Übersetzung von Josua Boesch, da chum i hei zu dir, i diis Gheimnis, für immer.

In Zeit und Ewigkeit: Bhüet eus, Gott!

Gospelchor: „Just a Closer Walk“

Kaiseraugst, 23. März 2023

Noch einmal: Vortrag zur Frage nach der Auferstehung der Toten (Mk 12, 18-27)

Text:

18 Und es kommen Sadduzäer zu ihm, die behaupten, es gebe keine Auferstehung; und sie fragten ihn: 19 Meister, Mose hat uns vorgeschrieben: Wenn einem der Bruder stirbt und eine Frau zurücklässt und kein Kind hinterlässt, dann soll sein Bruder die Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken. 20 Nun waren da sieben Brüder. Der erste nahm eine Frau, und als er starb, hinterliess er keine Nachkommen. 21 Da nahm sie der zweite und starb, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und ebenso der dritte. 22 Und alle sieben hinterliessen keine Nachkommen. Zuletzt, nach allen andern, starb auch die Frau. 23 In der Auferstehung nun, wenn sie auferstehen - wessen Frau wird sie sein? Alle sieben haben sie ja zur Frau gehabt.

24 Jesus sagte zu ihnen: Irrt ihr nicht darum, weil ihr weder die Schriften noch die Macht Gottes kennt? 25 Wenn sie nämlich von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel im Himmel. 26 Was aber die Toten betrifft, wenn sie auferweckt werden - habt ihr nicht gelesen im Buch des Mose, in der Geschichte vom Dornbusch, wie Gott zu ihm gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? 27 Er ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. Ihr irrt sehr.


Vortrag:

Die Sadduzäer sind neben den Pharisäern und den Herodianern eine der Parteien, die im Synhedrium, dem Hohen Rat Einsitz nehmen. Die Sadduzäer-Partei besteht aus Mitgliedern der „Priesteraristokratie und Laienmagnaten“ (Eckey 389). Sie sind eine kleine, aber „politisch in Jerusalem ausserordentlich einflussreiche Gruppe“ (391). Eines der Charakteristika, welche die Sadduzäer auszeichnen, ist die Konzentration auf die Tora – nur die fünf Bücher Mose haben für sie Gültigkeit. Flavius Josephus, der jüdisch-hellenistische Historiker, der kurz nach Jesu Tod zur Welt kam und dessen Schriften die wichtigste Quelle zu den Sadduzäern sind, schreibt das Folgende:

„Die Pharisäer haben dem Volk durch mündliche Überlieferung viele Gebote aufbewahrt, welche in die Gesetzgebung des Moses nicht aufgenommen sind. Diese Gebote nun verwirft die Sekte der Sadduzäer und behauptet, das allein sei massgebend, was geschrieben stehe, während die mündliche Überlieferung der Vorfahren keine Gültigkeit habe. Über diesen Punkt entstanden oft heftige Streitigkeiten, wobei die Sadduzäer nur die Reichen, die Pharisäer aber die grosse Menge des Volkes auf ihrer Seite hatten.“ (ebd.)

Mit der Konzentration auf die Tora ist das zweite Charakteristikum der sadduzäischen Theologie verbunden: Sie sind der Überzeugung, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. Josephus schreibt:

„Sie leugnen nicht nur die Auferstehung des Fleisches, sondern glauben auch nicht an ein Fortleben der Seele; es gebe nur ein Dasein hier, und für dieses Leben sei der Mensch geschaffen; darin werde die Lehre von der Auferstehung erfüllt, dass man beim Sterben Kinder hinterliesse; nach dem Tod sei weder Gutes noch Schlimmes zu erwarten, es trete die Auflösung der Seele und des Körpers ein und der Mensch sinke in das Nichtsein wie die übrigen Lebewesen.“ (Eckey 392, A. 782)

Das klingt in unseren Ohren modern – da hat jemand die religiösen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod abgestreift, denkt man. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn die Religion des alten Israel, wie sie im Alten Testament zur Sprache kommt, ist unter den Religionen ein Ausnahmefall. Es kennt im Wesentlichen kein Leben nach dem Tod. Der Spirit des Alten Testaments kommt pointiert etwa im folgenden Spruch aus dem Hiobbuch zum Ausdruck:

„Die Wolke entschwindet und geht dahin; so kommt nicht herauf, wer ins Totenreich stieg.“ (Hi 7, 9; nach Drewermann 272)

Wie anders klingt daneben etwa das ägyptische Credo:

„Was die Zeit, die man auf Erden verbringt, betrifft, so ist sie diese kurze Zeit eines Traumes, und schon sagt man: ‚Willkommen, heil und wohlbehalten!‘“ (ebd.)

Erst in den ganz späten Texten des Alten Testaments taucht so die Auferstehungshoffnung auf, z.B. in Jesaja 26, 19f.:

„Deine Toten aber werden leben,
ihre Leichname stehen wieder auf.
Wacht auf, und jubelt, ihr Bewohner des Staubs!“ (Jes 26, 19f.)

Drewermann entwickelt so etwas wie eine dialektische Entwicklungsgeschichte der Auferstehung: Das alte Israel habe sich mit seiner radikalen Diesseitigkeit vom ägyptischen Totenkult abgesetzt, um sich vom Ahnen- und Geisterkult zu befreien. Dieser ist an die Vergangenheit gebunden, während der Gott der Bibel Zukunft eröffnet. In dieser emanzipatorischen Bewegung wurde das unabhängige, eigenverantwortliche Individuum freigesetzt. Erst nach dieser Ablösung war es möglich, sich neu für den Auferstehungsglauben zu öffnen:

„Paradoxerweise musste offenbar der Jenseitsglaube als erstes in seiner mythischen Unmittelbarkeit zerbrochen werden, um die altägyptische Hoffnung auf ein ewiges Leben aus der Freiheit und Individualität des Menschen noch einmal zu begründen.“ (nach 275)

Die Sadduzäer öffnen sich, im Gegensatz zu den Pharisäern und auch der Jesus-Bewegung, nicht für diesen weiteren Schritt im Prozess der geistig-spirituellen Entwicklung. Sie sind konservativ. Und das hat seine Gründe: Anders als die Pharisäer waren die Sadduzäer wesentlich eine politische Partei (nach Drewermann 273). Es geht ihnen wesentlich um Erhaltung und Festigung ihrer Macht. Ihre Einstellung ist eine pragmatische; der berühmte Satz des Hohepriesters Kajaphas, der vermutlich ein Sadduzäer war, ist ein typisch sadduzäischer: „Es ist besser, wenn ein einzelner Mensch stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11, 50). Der Glaube an ein Leben nach dem Tod relativiert das diesseitige Leben. Er befreit aus dem ängstlichen Verharren im Status quo (vgl. Drewermann 274).

Drewermann argumentiert fulminant für diese Befreiung:

„Der Glaube an die individuelle Unsterblichkeit … beruhigt und überwindet den Egoismus der Angst vor der Nichtigkeit der Existenz. Alle Angst vor dem Tode ist letztlich ein Reflex der Endlichkeit des individuellen Daseins, und eben diese Angst ist es, die dazu führt, sich wie verzweifelt an das endliche Leben zu klammern. Einzig das Vertrauen in die Unendlichkeit der individuellen Person vermag das Getto des Unheils der irdischen Existenz aufzubrechen“ (nach 275).

Diese Sichtweise entspricht genau der Genese der Auferstehungshoffnung, wie sie mein Pfarrkollege Leszek Ruszkowski in seiner Osterpredigt aufgezeigt hat:

„Im Jahr 175 v.Chr. kam es zum Aufstand der Makkabäer gegen die Auflösung der jüdischen Kultur und Religion im Hellenismus. Junge jüdische Männer wurden zu Tausenden ermordet. In jener Zeit brachte eine Mutter, die beim Aufstand alle ihre sieben Söhne verloren hatte, ihre Hoffnung trotz aller Verzweiflung mit dem Bekenntnis zum Ausdruck: Der Gott, der die Kinder im Mutterleib hat entstehen lassen, wird ihnen nach ihrem gewaltsamen Tod Leben und Atem wiedergeben! (2. Makk 7,22-23).“

In diesem existenziellen Moment ist der Auferstehungsglaube entstanden, gleichsam aus dem Schrei einer Mutter, nicht in abstrakten, gar absurden schriftgelehrten Debatten. Letztere trieben zuweilen seltsame Blüten, etwa im äthiopischen Henoch, einem apokalyptischen Buch, wo es heisst: „Alle Gerechten werden am Leben bleiben, bis sie 1000 Kinder gezeugt haben…“ (nach Eckey S. 394 A786)

Die kleine Geschichte, welche die Sadduzäer in V. 20-22 zum Besten geben, führt diese Position ad absurdum – und ist selber reichlich absurd. Sie wird in den Kommentaren zurecht als grotesk, künstlich konstruiert und lächerlich bezeichnet.

Man fragt sich, ob es die Sadduzäer sind, welche jene lächerlich machen wollen, die an die Auferstehung glauben. Oder ob es das frühe Christentum war, welches die Position der Sadduzäer ins Lächerliche zieht.

Man hat in der Forschung schon vermutet, das doppelte „ihr irrt“ (V. 24.27) im Text beziehe sich geradezu auf einen Titel, die Sadduzäer seien – aus frühchristlicher Perspektive – also die „Sich-Irrenden“, die Häretiker.

Leider gibt es keine eigenen schriftlichen Dokumente der Sadduzäer. Die Gruppe verschwindet mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 66 n.Chr. Die wenigen und tendenziösen Texte im NT und von Josephus, die über die Sadduzäer überliefert sind, stehen in keinem Verhältnis zu der Bedeutung, die sie in den Jahrhunderten zuvor hatten.

Jedenfalls: die Geschichte, so, wie unser Text sie erzählt, zeigt, wie die Frau im Patriarchat herumgeschoben, verschachert, weitergereicht wird. Das Ziel des Konzepts der sogenannten Leviratsehe, welches dahintersteht, ist, Samen und Namen eines Mannes in seinem Volk weiter zu bewahren. Es ist ein Fortleben über den Tod hinaus ohne Auferstehung, im Rahmen reiner Diesseitigkeit. Der Auferstehungsglauben, wie Drewermann ihn beschreibt, ist demgegenüber von emanzipatorischer Kraft:

„Als ob man mit Menschen so umgehen könnte, wie wenn sie Besitzstücke, Prunkstücke, Anstecknadeln, Trophäen, Skalps … wären! In dieser Weise verbriefter Besitzrechte weiterleben – das freilich kann man nicht mehr, wenn es die Ewigkeit gibt. Man kann die Würde, die Grösse, die unendliche Kraft der Freiheit eines jeden Menschen an unserer Seite nicht mehr verleugnen und nicht mehr schänden, wenn es die Ewigkeit gibt. Niemand ist dann mehr befugt, sich hinzustellen und zu sagen: meine Frau, mein Kind, mein Hund, mein Haus, mein Baum, mein Auto… Nichts gehört im Schatten der Ewigkeit letztlich uns selber, sondern wir alle miteinander gehören einzig Gott.“

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Gehen wir weiter zum zweiten Teil des Streitgesprächs, der Antwort Jesu in der V. 24-27:

Zunächst stellt Jesus die rhetorische Frage:

„Irrt ihr nicht darum, weil ihr weder die Schriften noch die Macht Gottes kennt?“

Es gibt eine interessante literarkritische These, die behauptet, dass Jesus ursprünglich nur von der „Macht Gottes“ und nicht von den Schriften gesprochen hat. Das würde den Gegensatz zwischen der Fixierung auf die Tora, die fünf Bücher Mose der Sadduzäer und der unmittelbaren Verbundenheit Jesu mit der göttlichen Kraft noch verschärfen.

Dass die Pharisäer die Schriften „nicht kennen“, stimmt jedenfalls nicht. Sie kennen sie in- und auswendig. „Nicht kennen“ bedeutet hier „nicht verstehen“. Sie haften am Buchstaben, Jesus meint den Geist, der in, mit und unter den Worten west.

Dass Jesus von den „Schriften“ im Plural spricht, meint vielleicht, dass für ihn eben nicht nur die Tora, sondern der ganze Tanach, also Tora, Propheten und Weisheitsbücher, der ganze Kanon der hebräischen Bibel Gültigkeit hat. Wobei die Bibelstelle, auf die er sich wenig später, in V. 26 bezieht, dann aus der Tora entnommen ist. Er argumentiert also mit der Tora gegen die Tora, mit Mose gegen Mose.

Seine Antwort ist zweiteilig. Im ersten Teil, V. 25, bezieht er sich auf das Wie der Auferstehung. Erst im zweiten Teil, der holprig eingeleitet ist („grammatikalisch ungeschickt“, Schweizer), nimmt er Stellung zum Dass der Auferstehung.

Diese Zweiteiligkeit hat zu diversen Spekulationen geführt. Es gibt Exegeten, die die ganze Geschichte als eine „katechetische Bildung“ des frühen Christentums verstehen; sie sei konstruiert worden, um das Auferstehungsverständnis des Urchristentums auf Jesus zurückzuführen (Kertelge).

Andere vermuten, dass die Geschichte ursprünglich nur bis V. 25 ging und bis dahin ein authentisches Streitgespräch Jesu mit den Sadduzäern wiedergibt. V. 26f. sei späterer Zusatz. Doch auch das Umgekehrte wird erwogen. So schreibt Drewermann:

„In gewissem Sinne ist es verlockend, zumindest die Worte von Mk 12, 26.27 als echte Jesusworte zu betrachten. So also hat er gedacht! Und das waren die Gedanken, die ihn auch den Tod nicht scheuen liessen!“ (282)

Der „konservative“ Neutestamentler Joachim Jeremias hingegen hält das ganze Gespräch für authentisch, mit guten Gründen, wie mir scheint: Das Urchristentum hätte bei der Frage nach dem Wie der Auferstehung nicht auf Engel Bezug genommen, sondern auf den Auferstandenen. Und dasselbe gilt für das Dass der Auferstehung: Das Urchristentum hätte die Auferstehung nicht mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs begründet, sondern mit der Auferstehung Jesu Christi, mit dem Osterereignis. (nach Drewermann 283)

Wie dem auch sei. Interessanter als all diese Spekulationen über die Genese unseres Textes ist sein Inhalt. Betrachten wir abschliessend noch kurz die beiden Teile der Antwort Jesu.

V. 25 wird das Wie der Auferstehung beschrieben: Wir werden sein wie die Engel im Himmel. „Im Himmel“ könnte eine typisch jüdische, verhüllende Weise sein, von Gott zu sprechen. Was aber heisst es, zu sein wie die Engel?

Schön finde ich die Überlegung des Neutestamentlers Julius Schniewind, dass Engel der Zeit enthoben sein:

„Die Engel durchleben keine Geschichte nach irdisch-menschlichem Zeitverlauf, und so gibt es für sie keinen Wechsel der Generationen, keine Ehe und keine Nachkommen.“ (159)

Einen anderen Vergleichspunkt benennt der Berner Dichterpfarrer Kurt Marti in seiner Predigt über unseren Text:

„So wie die Engel jetzt schon Wesen sind, die ganz zur Verfügung Gottes stehen, so soll auch der neue Mensch ganz für Gott verfügbar sein und darin gerade seine volle Menschlichkeit finden.“ (268)

Auf diese Menschlichkeit konzentriert sich die Auslegung Drewermanns: Engel, sagt er, seien eine Chiffre für das Wesen des Menschen:

„Wenn Menschen zur Vollendung ihrer selbst gelangt sind, besitzt die Liebe wesentlich nicht mehr den Sinn wechselseitiger Ergänzung, sie ist dann frei und offen, jenseits aller irdischen Einengungen, Festlegungen und Vorschriften.“ (281)

V. 26 setzt die Argumentation noch einmal neu an. Nun geht es nicht um das Wie, sondern um das Dass. Jesus bezieht sich auf DIE zentrale Stelle der Tora, die Erscheinung Gottes vor Mose im Dornbusch. Dort, wo der Gottesname offenbart wird, IHWH, aus echje ascher echje. Dort, wo Gott sich zu erkennen gibt als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. In einem Kommentar stehen zurecht die lakonischen Worte:

„Im alttestamentlichen Kontext ist aus dieser Stelle die Totenauferstehung nicht herauszuhören.“ (Gnilka 160) Dort erinnert Gott an den Bund, den er mit ihnen geschlossen hatte und der auch zu Moses Zeiten in Ägypten noch gilt.

Doch diese Zusage von Gottes Treue, die über alle Zeiten hinaus gilt, dehnt sich aus bis in die Ewigkeit. „Wo Gott eines Menschen Gott wird“, schreibt Eduard Schweizer, „… da kann das von niemandem und nichts aufgehoben werden…, also auch nicht vom Tod“. (136)

Diese Erfahrung, dass „Gott eines Menschen Gott wird“, hat Blaise Pascal, französischer Philosoph der Aufklärung und mathematisches Genie, im „Jahr der Gnade 1654, am Montag, den 23. November“ nachts gemacht. Als Pascal 1662 im Alter von nur 39 Jahren stirbt, findet man im Futter seines Mantels einen Zettel, den er offenbar immer mit sich getragen hat. Er beginnt mit obiger Datierung. Dann das eine Wort „Feu“, „Feuer“. Dann auf einer neuen Zeile:

„Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.“

„Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi“ heisst es weiter, und dann folgen Zeile für Zeile biblische Zitate, offenbar in einem Zustand tiefer Ergriffenheit, ja Erschütterung hingekritzelt, hingeschleudert. Pascal kam in dieser Nacht der Erleuchtung in Berührung mit jener Dimension, aus der Jesus den Sadduzäern antwortet: Der Dimension der Kraft Gottes. Der Dimension des lebendigen Gottes. In jener Dimension ist es keine Frage, dass sich die Sadduzäer mit ihren Gedankenspielereien irren.

Vortrag per Zoom in der Osterzeit 2023

"Wachet und betet": Meditation über Mk 14, 38 anlässlich einer Taizéfeier

Eine der archetypischen Szenen, der Ur-Szenen der Passionszeit ist Getsemani, jener Garten, in dem Jesus einsam zu Gott, seinem Abba betet.

Bevor sich Jesus in die Einsamkeit zurückzieht, sagt er zu seinen Freunden: „Wachet und betet!“

Man hat zunächst den Eindruck, Jesus appelliere an den Willen, den Durchhaltewillen seiner Freunde.

Doch im Hesychasmus, der mystischen Strömung in der orthodoxen Kirche, wird „Wachet und betet“ anders verstanden.

Hier heisst es, „es gebe ein geheimes Gebet im Menschen selber, von dem er keine Ahnung habe; unbewusst werde dieses Gebet von der Seele verrichtet“ (nach 35).

Der Hesychasmus unterscheidet zwischen dem gewöhnlichen und dem mystischen Gebet. Die allgemeine Vorstellung von Gebet lautet:

„Um zu beten, muss man zur Kirche gehen, muss sich bekreuzigen, die vorgeschriebenen Verneigungen machen, knien, die Psalmen lesen sowie die Bittgesänge zu bestimmten Anliegen sprechen“ (nach 34f.).

Das Gebet, so verstanden, ist insgesamt ein Tun, ein Machen, ein Werk, eine Leistung.

Doch das hesychastische Gebet ist umgekehrt ein Loslassen, Leerwerden, eine Öffnung. Es führt hinein in unseren ursprünglichen Zustand – und dieser ursprüngliche Zustand ist nichts anderes als immerwährendes Gebet. „Herzensgebet“, nennt das der Hesychasmus. Und dieses Herzensgebet bedeutet, „dass man zu jeder Zeit, in jeder Lage, an jedem Ort beten kann und es leicht fällt, im immerwährenden Herzensgebet zu verweilen, welches das Reich Gottes in uns erschliesst“ (nach 38).

In diesem immerwährenden Gebet bin ich wach, auch wenn ich müde bin und sogar dann, wenn ich schlafe – „ich schlief, doch es wachte mein Herz“, heisst es in dem zauberhaften Wort im Hohelied der Liebe (Hld 5, 2).

„Wachet und betet“ ist kein Appell an unseren Durchhaltewillen – es meint das Ganze, die gesamte Existenz eines Lebens mit Christus.

„Bleibet hier und wachet mit mir. Wachet und betet!“ – Singen wir dieses Lied:

Lied: “Bleibet hier und wachet mit mir” (3)

Text am Schluss:

Der zeitgenössische Jesuitenpater und spirituelle Lehrer Niklaus Brantschen schreibt in seinem Büchlein „Der Weg ist in dir“, aus dem auch alle oben zitierten Stellen stammen:

„Das Herzensgebet ist allen Menschen möglich, ja sogar aller Kreatur. Es wohnt allen und allem inne … Alles seufzt naturgemäss und strebt und wünscht sich die Freiheit der Kinder Gottes; dieses geheimnisvolle Seufzen der Kreatur und das den Seelen eingeborene Streben ist das innere Gebet. Man braucht es nicht zu erlernen" (nach S. 40).

Kaiseraugst, 23. März 2023

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“: Predigt an Karfreitag über Mk 15, 22-34

Einleitung

„Eloi, Eloi, lema sabachtani“, „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – so beginnt der grosse Passionspsalm 22. Eben diese Worte schreit und betet (beides ist kein Gegensatz) Jesus am Kreuz. „Eloi, Eloi, lema sabachtani“: Die Worte verbinden Alten und Neuen Bund; Altes und Neues Testament kommen an diesem tiefsten Punkt zusammen.

Wir hören heute zwei biblische Texte: aus dem Neuen Testament den Kreuzigungsbericht nach dem Markusevangelium, aus dem Alten Testament den 22. Psalm.

Wir gehen dabei nicht den üblichen Weg vom Alten zum Neuen, sondern kehren umgekehrt zurück, steigen hinab in die Tiefe, aus der der Psalm seine Klage erhebt.

Wir beginnen also mit dem Kreuzigungsbericht:

Lesung I: Mk 15, 22-34

22 Und sie bringen ihn an den Ort Golgota, das heisst ‹Schädelstätte›. 23 Und sie gaben ihm Wein, der mit Myrrhe gewürzt war; er aber nahm ihn nicht. 24 Und sie kreuzigen ihn und teilen seine Kleider unter sich, indem sie das Los darüber werfen, wer sich was nehmen dürfe. 25 Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. 26 Und die Inschrift, die seine Schuld angab, lautete: König der Juden. 27 Und mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken.

29 Und die vorübergingen, verwünschten ihn, schüttelten den Kopf und sagten: Ha, der du den Tempel niederreisst und in drei Tagen aufbaust, 30 rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! 31 Ebenso spotteten die Hohen Priester untereinander mit den Schriftgelehrten und sagten: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. 32 Der Messias, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, verhöhnten ihn.

33 Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.34 Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, eloi, lema sabachtani!, das heisst: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!


Predigt I (zu Mk 15, 22-34):

Golgota – dieser klangvolle Name heisst übersetzt: „Schädelstätte“. „Schädel“ heisst der Ort deshalb, weil die kleine Erhebung dort an die Form eines Schädels erinnert. Doch im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu tönt Golgota nach Todesgrauen.

Golgota lag ausserhalb der Stadtmauern. Hinrichtungen mussten immer extra portam, ausserhalb der Tore stattfinden. Der Weg zur Exekution bedeutete zugleich die Exkommunikation der Verurteilten. Sie wurden aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgestossen wie der Sündenbock in die Wüste.

Jesus wird mit Myrrhe vermischter Wein dargereicht. Das ist eine humane Geste, denn Myrrhe hat betäubende Wirkung, der Rauschtrank würde die Schmerzen lindern. Doch Jesus nimmt ihn nicht ein – wohl deshalb, weil er seine Qualen mit wachem Bewusstsein erleiden will.

Dann wird er gekreuzigt. Man ist dem Evangelisten dankbar, dass er die Kreuzigung in maximaler Kürze erzählt – im griechischen Urtext mit gerade mal zwei Wörtern, auf Deutsch sind es drei: „Sie kreuzigen ihn“.

Da ist nichts vom Pathos von The Passion of Christ und anderen solchen Jesusfilmschinken. Stattdessen erzählt der Evangelist etwas, was zunächst eine Nebensächlichkeit zu sein scheint:

Die Soldaten, die Wache halten, losen um die Kleider von Jesus, also das Ober- und das Untergewand, den Gürtel, die Sandalen, vielleicht eine Kopfbinde.

Bei den Römern gab es den Brauch, die Schuld des Täters auf eine Tafel zu schreiben und ihm diese beim Gang zum Galgen um den Hals zu hängen. Entsprechend ist am Kreuz, an dem Jesus hängt, ein Schild mit der Aufschrift „König der Juden“ fixiert.

Zusammen mit Jesus werden zwei Räuber gekreuzigt. Diese verhöhnen Jesus ebenso wie die Mitglieder des jüdischen Hohen Rates und Passanten, die mit einer archaischen Abwehr- und Ausstossungsgeste den Kopf schütteln. Der Kranke und sogar Tote gerettet hat, soll nun sich selber retten, spotten die Leute, wenn er nun vom Kreuz herabsteigen würde, dann wäre das ein glaubhaftes messianisches Zeichen.

Doch nichts dergleichen geschieht. Jesus stirbt in absoluter Einsamkeit, nicht einmal seine Leidensgenossen wollen etwas mit ihm zu tun haben.

Und auch Gott selber scheint ihn verlassen zu haben. „Eloi, Eloi lema sabachtani“, ruft Jesus laut schreiend aus, „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Kurz darauf stirbt er.

„Eloi, Eloi lema sabachtani“ – diese Worte scheinen zu bezeugen, dass Jesus am Kreuz nicht nur von anderen verlacht, verhöhnt und verspeit, sondern auch selber resigniert, gescheitert und verzweifelt gestorben ist (Bultmann). Das ist schwer erträglich. Schon die Evangelisten Lukas und Johannes legen Jesus andere, souveränere und tröstlichere Worte in den Mund – als wollten sie diesen tiefsten Punkt vermeiden.

Doch gilt es, glaube ich, eben hier, an diesem tiefsten Punkt zu verweilen. Die Worte „Eloi, Eloi lema sabachtani“ entstammen dem Psalm 22. Sie stehen dort ganz am Anfang. Wenn man weiterliest, wird man hellhörig:

Da heisst es weiter: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, verziehen den Mund und schütteln den Kopf: ‚Der EWIGE rette ihn, er befreie ihn, er hat ja Gefallen an ihm.“ Die Verspottung Jesu im Kreuzigungsbericht erinnert bis in den Wortlaut an diesen Vers.

Und weiter heisst es im Psalm: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand“. Dieser Vers steht sogar wortwörtlich im Kreuzigungsbericht.
Und noch eine Reihe weiterer solcher Bezüge könnten erwähnt werden.

Zunächst hat man den Eindruck, der Kreuzigungsbericht sei eine sachliche Darstellung eines schrecklichen Ereignisses.

Doch wenn man den 22. Psalm dazu liest, dann ist es, als würde der Vorhang des Vordergründigen zerreissen und sich dahinter eine neue Welt auftun. Das Kreuzigungsgeschehen in seiner absoluten Sinnlosigkeit wird durchsichtig für Sinnbezüge vom Psalter her. Das Neue Testament bekommt seinen Sinn vom Alten.

Wenn Jesus mit dem 22. Psalm betet: „Eloi Eloi lema sabachtani“, dann tritt er in eine Tradition von Jahrhunderten, in der verzweifelte, verfolgte, verwundete, kranke, depressive… insgesamt: irgendwie leidende Menschen mit diesen Worten zu ihrem Gott gebetet haben.

Es ist kein spezifisches Leiden, das der Psalm schildert, und es ist kein konkreter Mensch, der ihn betet. Der Beter, die Beterin ist der Archetyp, die Ur-Figur des Leidens, und das Gebet ist aus einer paradigmatischen Leiderfahrung heraus geschrieben, aus dem menschlichen Leiden an sich.

In diesen Psalmraum hinein wirft sich der sterbende Jesus. Der Psalter war ein Leben lang sein Gebetsbuch. Auch in Getsemani betete er mit Psalmen. Mit Psalmen betet er auch im Sterben. Wer sich in die Nachfolge des Nazareners stellen will, der lese, bete, kaue also die Psalmen. „Ein Christ“, sagt der Reformator Martin Luther, „soll den Psalter so gut kennen, als er seine fünf Finger kennt. Darnach sind die vier Evangelisten auch fein klar.“ (zu Psalm 24)

Indem sich Jesus sterbend in den Psalmraum wirft, erfüllt sich dieser Raum mit messianischem Licht. Sollte ich selber einst dahin gelangen, wo es zu beten gilt: „Eloi Eloi lema sabachtani“, dann werde ich dort nicht allein sein. Der Messias Jesus ist auch dort, am Ort der absoluten Einsamkeit, mit mir. Er ist pro nobis, für uns dorthin gegangen – nach Golgota. Darum dürfen wir vertrauensvoll beten:

„Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür.
Wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiss mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.“

Wir hören, passend zu diesen Worten, die Arie „Bist du bei mir“ von J.S. Bach: „Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.“

Musik I: Arie "Bist du bei mir" von J.S. Bach

Einleitung Lesung II


Wir gehen nun weiter zurück, hinter das Neue zurück in das Alte Testament. Wir kehren zurück aus dem griechischen in den hebräischen Sprachraum, zurück in jenen Psalmraum, in den sich Jesus geworfen oder vielmehr: rückwärts fallen gelassen hat mit seinen Worten am Kreuz: „Eloi Eloi lema sabachtani“.

Ich werde über diesen Psalm nicht auch noch predigen, möchte aber eine etwas ausführlichere Einführung geben, bevor wir ihn dann hören.

Mitten im Psalm gibt es eine Zeile, die im hebräischen Urtext aus einem einzigen Wort besteht. In deutscher Übersetzung lautet die Zeile: „Du hast mich erhört.“

Was vorher und nachher geschrieben steht, ist dermassen unterschiedlich, dass manche annehmen, es handle sich ursprünglich um zwei verschiedene Psalmen. Diese Theorie reisst aber die spannungsvolle Einheit der beiden Teile auseinander.

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Im ersten Teil ruft DER BETER aus tiefster Not zu seinem Gott. Gott, glaubt DER BETER, habe ihn verlassen, sei ihm fern, antworte nicht. Und diese Ur-Not des Abgeschnittenseins Gott verbindet sich mit anderen Nöten.

Welches diese Nöte sind, lässt sich nicht genau eruieren.

An einer Stelle ist die Rede von einem Schwert und von durchbohrten Händen und Füssen, der Mensch ist bis auf die Knochen abgemagert und offenbar nackt. Dies könnte auf eine Hinrichtung hinweisen.

An anderer Stelle hat man den Eindruck, dass DER BETER unter einer schweren Krankheit leidet. Er zerfliesst wie Wachs, giesst aus wie Wasser, trocknet aus und verdorrt, sein Körper scheint sich aufzulösen in der Glut des Fiebers.

Dann tauchen furchterregende Tiere auf, Löwen, Bluthunde, wilde Stiere. Sie umringen, umzingeln DEN BETER und drohen, ihn zu verschlingen. Mit diesen Tieren sind symbolisch feindliche Chaos-Mächte gemeint, die sich z.B. in körperlichen und seelischen Krankheiten manifestieren.

Im Gegensatz zu diesen gewaltigen Tieren bezeichnet sich DER BETER als Wurm und Nicht-Mensch, seine Würde ist in den Staub gestampft.

Mitten in all der Bedrängnis erinnert sich DER BETER daran, dass seine Vorfahren vertrauten. Sie vertrauten auf den, der „über den Lobgesängen Israels thront“. Wenn im Tempel gesungen wird, dann ist Gott gegenwärtig, das weiss DER BETER in seinen lichten Momenten.

Doch seine Gedanken irren unstet umher, sie wenden sich wieder zu den feindlichen Tieren, dann wieder zur eigenen Situation, die ausweglos zu sein scheint: Gott, der DEN BETER doch verlassen hat, wird nun selber zum Feind und legt den Todgeweihten in den Staub.

Dann – ex nihilo, aus dem Nichts – taucht diese eine Zeile, dieses eine Wort auf: „Du hast mich erhört“.

Nun wird alles anders. Die Klage wandelt sich in Lobgesang. Von nun an wird DER BETER haSchem verkünden – so nennt Israel seinen Gott, haSchem, der Name, und bezeichnet damit Gottes heilsame Gegenwart, heilswirksame Präsenz. Das Lob dehnt sich aus:

• Die Armen-Elenden, die Jesus in der Bergpredigt seliggepriesen hat – sie werden zum Essen eingeladen. Ihr Herz lebt auf.
• Alle Völker der Erde wenden sich dem Gott zu, der DEN BETER aus der Tiefe gezogen hat.
• Sogar die Toten preisen Gott – hier wird im Psalm eine Schranke überschritten, die sonst im Alten Testament als unüberwindbar gilt. Die Unterwelt, wo die Toten hausen, ist gottferne Zone. Doch nun stimmen auch die in der Erde Schlafenden in den Lobgesang ein.
• Und auch die noch nicht Geborenen, die Generationen der Zukunft, auch sie hören schon von der rettenden, heilenden Wirkung von haSchem, dem Namen. „Denn“, so endet der Psalm mit einem Wort, in dem schon Jesu Wort am Kreuz: „Es ist vollbracht“ anzuklingen scheint: „Denn er hat es vollbracht“.

„Psalm 22 durchläuft unfassliche Dimensionen.“ Er steigt hinunter bis in das Reich des Todes, und er schwingt sich auf bis zum universalen Lobgesang, in den die Völker der Erde, die Toten und die Kinder der Zukunft mit einstimmen.

Lassen wir uns hineinnehmen, heute, an Karfreitag, am toten Punkt, in diesen Weg des Abstiegs und Aufstiegs, wie ihn der Messias Jesus gegangen ist. Und auch DER BETER des 22. Psalms. Wir hören den Psalm in seiner vollen Länge. Er klingt nach in der Stille und in Musik.

Lesung II: Psalm 22

2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meiner Rettung, den Worten meiner Klage?
3 Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht, bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
4 Du aber, Heiliger, thronst auf den Lobgesängen Israels.
5 Auf dich vertrauten unsere Vorfahren, sie vertrauten, und du hast sie befreit.
6 Zu dir schrien sie, und sie wurden gerettet, auf dich vertrauten sie, und sie wurden nicht zuschanden.
7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und verachtet vom Volk.
8 Alle, die mich sehen, verspotten mich, verziehen den Mund und schütteln den Kopf:
9 Wälze es auf den HERRN. Der rette ihn, er befreie ihn, er hat ja Gefallen an ihm.
10 Du bist es, der mich aus dem Mutterschoss zog, der mich sicher barg an der Brust meiner Mutter.
11 Auf dich bin ich geworfen vom Mutterleib an, von meiner Mutter Schoss an bist du mein Gott.
12 Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nahe; keiner ist da, der hilft.
13 Zahlreiche Stiere sind um mich, Baschanbüffel umringen mich.
14 Sie sperren ihr Maul auf gegen mich, ein reissender, brüllender Löwe.
15 Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und es fallen auseinander meine Gebeine. Wie Wachs ist mein Herz, zerflossen in meiner Brust.
16 Trocken wie eine Scherbe ist meine Kehle, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, in den Staub des Todes legst du mich.
17 Um mich sind Hunde, eine Rotte von Übeltätern umzingelt mich, sie durchbohren mir Hände und Füsse.
18 Zählen kann ich alle meine Knochen. Sie aber schauen zu, weiden sich an mir.
19 Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.
20 Du aber, HERR, sei nicht fern, meine Stärke, eile mir zu Hilfe.
21 Errette vor dem Schwert mein Leben, aus der Gewalt der Hunde meine verlassene Seele.
22 Hilf mir vor dem Rachen des Löwen, vor den Hörnern der Wildstiere.

Du hast mich erhört.

23 Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, in der Versammlung will ich dich loben.
24 Die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn, alle Nachkommen Jakobs, ehret ihn, erschauert vor ihm, alle Nachkommen Israels.
25 Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut des Elenden Elend, hat sein Angesicht nicht vor ihm verborgen, und da er schrie, erhörte er ihn.
26 Von dir geht aus mein Lobgesang in grosser Versammlung, meine Gelübde erfülle ich vor denen, die ihn fürchten.
27 Die Elenden essen und werden satt, es loben den HERRN, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer.
28 Alle Enden der Erde werden dessen gedenken und umkehren zum HERRN, und vor ihm werden sich niederwerfen alle Sippen der Nationen.
29 Denn des HERRN ist das Reich, und er herrscht über die Nationen.
30 Vor ihm werfen sich nieder alle Mächtigen der Erde, vor ihm beugen sich alle, die in den Staub sinken.
31 Erzählen wird man vom Herrn der Generation,
32 die noch kommt, und verkünden seine Gerechtigkeit dem Volk, das noch geboren wird. Er hat es vollbracht.

Stille

Musik: "Fac, ut portem Christi mortem" aus dem "Stabat Mater" von Pergolesi


Kaiseraugst, Karfreitag, 7. April 2023

„Er geht euch voraus nach Galiläa“: Predigt am Ostermorgen über die Erzählung vom leeren Grab

Wir hören heute, am Ostermorgen, die Geschichte vom leeren Grab. Darin sagt der Engel zu den Frauen, dass der auferstandene Jesus „euch vorausgeht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen.“

Galiläa ist, aus der Perspektive Jerusalems, das Niemandsland im Norden. Galiläa, nicht Jerusalem, der Rand, nicht das Zentrum ist also der Ort, wo der Messias erscheint. Von dort her taucht das Licht auf.

Wir hören aus Mk 16 die Verse 1-8 – es ist der Schluss des Evangeliums:

Text: Das leere Grab (Mk 16, 1-8)

16, 1 Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. 2 Und sehr früh am ersten Tag der Woche kommen sie zum Grab, eben als die Sonne aufging. 3 Und sie sagten zueinander: Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? 4 Doch wie sie hinschauen, sehen sie, dass der Stein weggewälzt ist. Er war sehr gross.

5 Und sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem langen, weissen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. 6 Er aber sagt zu ihnen: Erschreckt nicht! Jesus sucht ihr, den Nazarener, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier. Das ist die Stelle, wo sie ihn hingelegt haben. 7 Doch geht, sagt seinen Jüngern und dem Petrus, dass er euch vorausgeht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. 8 Da gingen sie hinaus und flohen weg vom Grab, denn sie waren starr vor Angst und Entsetzen. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich.


Predigt

Es war kurz vor der Jahrtausendwende. Bernie Glassman, 2018 verstorben, damals einer der bekanntesten Meditationslehrer der Gegenwart, verlor die Fassung. Weinend, schluchzend, sass er vorn vor dem Mikrophon. Die Zuhörenden im überfüllten Saal, zu denen auch ich gehörte, lauschten gebannt den Worten, die er durch die Tränen hindurch stammelte. Bernie erzählte von seiner Frau Sandra, die kurz zuvor, 57 Jahre alt, dem dritten Herzinfarkt erlegen war.

Bernie war eine charismatische Persönlichkeit. Er brauchte nichts zu sagen – allein seine Präsenz, seine Ausstrahlung zog die Menschen in ihren Bann. Wenn er sprach, dann waren seine Worte prägnant und wesentlich. Es waren Worte, die wirkten.

Ein Freund hat Bernie einmal so beschrieben: Er sitzt auf seinem Sofa wie im Auge eines Hurrikans. Seelenruhig sinniert er vor sich hin, entwickelt Pläne, plant Projekte. Und rings um ihn herum wirbeln, rasen, schleudern die Menschen.

Allen voran war es seine Frau Sandra. Sie versuchte, seinen rasch hingeworfenen, nie ausgereiften und – hopps – schon realisierten Ideen Lebensdauer zu geben. Kontinuität, Nachhaltigkeit.

Sandra hatte ein grosses Herz. Sie wusste und spürte, da sind Menschen, die Sehnsucht und Hoffnung investieren in ein zu bauendes Meditationszentrum oder eine geplante Gassenküche in der Bronx, einem der Armenviertel von New York.

Es fiel ihr nicht so leicht wie ihrem Mann, Projekte, kaum waren sie angerissen, wieder fallen zu lassen. Irgendwann hielten ihre Füsse, die unten auf der Erde tastend Wege suchten, nicht mehr Schritt mit dem Tempo des Überfliegers. Sandra wurde müde. Ihr Herz brach.

Bernie erzählte die Geschichte selbstkritisch. Sein Fazit lautete sinngemäss: Es gibt Menschen des Himmels und Menschen der Erde. Die wesentliche Arbeit wird von den Menschen der Erde getan.

Sandra war ein solcher Mensch der Erde. Und ebenso die drei Frauen, von denen die Lesung erzählt: Maria Magdalena, Maria, die Mutter von Jakobus dem Jüngeren, und Salome. Diese Frauen haben Jesus auf all seinen Wegen begleitet. Sie waren mit ihm unterwegs auf all seinen Wanderungen durch Galiläa und nach Jerusalem.

Doch mit Ausnahme von ein paar Notizen berichten die Evangelien nichts von ihnen.

• Sie standen nicht im Rampenlicht, und an den Schlüsselstellen im Leben von Jesus waren sie nicht dabei.
• Sie wurden nicht ausgesendet, um das Evangelium zu verkünden und Kranke zu heilen.
• Sie sahen nicht, wie Jesus bei der Verklärung auf dem Berg erleuchtet wurde und seine Kleider weiss glänzten. Und auch vom Abendmahl am Vorabend des Todes Jesu waren sie offenbar ausgeschlossen.

Doch nun hatte das Blatt sich gewendet. Von Judas verraten, von Petrus verleugnet, von seinen Freunden und seinem Gott verlassen ist Jesus gestorben. All die persönlichen und politischen Hoffnungen, die mit seiner Person verbunden waren, hatten sich zerschlagen. Das Spiel war aus, die Show vorbei. Die Stunde der Menschen der Erde war gekommen.

Die drei Frauen gehen nicht aufs Grab, weil sie Wunder erwarten. Sie tun, was noch getan werden kann und soll, ohne Aussicht auf eine Gegenleistung, einen Gewinn, einen irdischen oder himmlischen oder wie immer gearteten „Lohn“.

Sie tun, diese Menschen der Erde, was zu tun ist – einfach, glanzlos. Sie gehen aufs Grab, um den Verstorbenen zu salben. Sie schauen, dass die Menschen in der Gassenküche der Bronx etwas zu essen bekommen – auch dann, wenn die Medien lange schon ihr Interesse am Projekt verloren haben und der Spendenfluss zäh geworden ist. Eben darin sind diese Sandras, Salomes, Marias für mich Vorbilder im Glauben.

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Und sie sind für mich wegweisend in dem spirituellen Weg, den sie gehen. Die drei Frauen dringen ins Innerste vor. Sie gelangen an den tiefsten Punkt. Dort sehen sie: Das Grab ist leer!

Bei den Ostergeschichten gibt es zwei verschiedene Überlieferungen: Jene vom leeren Grab und jene von den Erscheinungen des Auferstandenen. Der älteste Beleg für die Erscheinungen geht auf den Apostel Paulus zurück. Dieser schreibt im 1. Korintherbrief (15, 3-7):

3 Denn ich habe euch vor allen Dingen weitergegeben, was auch ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäss den Schriften, 4 dass er begraben wurde, dass er am dritten Tage auferweckt worden ist gemäss den Schriften 5 und dass er Kefas (das ist Petrus) erschien und dann den Zwölfen. 6 Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch leben, einige aber entschlafen sind. 7 Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. 8 Zuallerletzt aber ist er auch mir erschienen.

Es fällt auf, dass der Auferstandene offenbar nur Männern erschienen ist – zumindest wenn man den Quellen vertrauen will, die wir zur Verfügung haben: Petrus und den zwölf Jünger, 500 Brüdern, Jakobus, allen Aposteln.

Beim leeren Grab ist es umgekehrt – dieses sahen ausschliesslich Frauen. Vielleicht ist das so, weil in damaliger Zeit Frauen beim Begräbnis und bei der Totenklage die massgebliche Rolle gespielt haben. Und weil sie bei den Erscheinungsberichten kurzerhand herausgestrichen wurden.

Doch vielleicht hat die Polarität zwischen Erscheinung und leerem Grab noch einen tieferen Sinn.

Man unterscheidet in der Theologie zwischen einem positiven und negativen Weg, von Gott zu reden. Dabei sind „positiv“ und „negativ“ nicht mit einer Wertung verbunden. Vielmehr ist die Polarität von positiver und negativer Theologie wie positiver und negativer Pol bei der elektrischen Spannung zu verstehen.

Beides gehört zusammen, das eine ist nicht besser als das andere. – Der Unterschied zwischen dem positiven und dem negativen Weg ist dieser:

Die positive Theologie benennt Gott, die negative betont seine Unnennbarkeit.

Die positive Theologie nennt Gott Herr, Herrscher, König. Oder auch Burg, Berg, Fels.

Die negative Theologie sagt bei all dem: Gott ist das nicht. Er ist nicht Herr, er ist nicht Burg.

Negative Theologie steht in radikaler Weise in der biblischen Tradition, dass man sich kein Bildnis machen soll. Durch das Wegwischen jedes Bildes wird der Geist leerer – und eben so entsteht Raum für Gott.

Die Erscheinungen der Auferstandenen lassen sich dem positiven Pol zuordnen: So ist Christus, so hat er sich gezeigt, so gibt Paulus ihn weiter: „gestorben für unsere Sünden gemäss den Schriften, begraben, am dritten Tage auferweckt gemäss den Schriften.“

Umgekehrt liesse sich das leere Grab dann dem negativen Pol zuordnen. Hier erscheint der Auferstandene nicht unmittelbar. Die Frauen haben nicht den Auferstandenen gesehen, sondern das leere Grab. Die Auferstehung Christi wird indirekt aus seiner Abwesenheit erschlossen.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass Meister Eckehart, der grosse Mystiker des Mittelalters, Seelsorger in Frauenklöstern war. Seine Erkenntnisse hat er vermutlich aus den Erfahrungen der Frauen gewonnen, die er seelsorgerlich begleitete.
Von Meister Eckehart stammt das Wort, das, wie mir scheint, den tiefen Sinn der Erzählung vom leeren Grab zum Ausdruck bringt:

„Soll ein Gefäss Wein aufnehmen, / so muss man notgedrungen das Wasser ausgiessen; / das Gefäss muss leer und frei werden. / Giess aus, damit du erfüllt wirst! / Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll, / das soll und muss leer sein.“

Dem leeren Gefäss entspricht eben das leere Grab. Es ist still hier unten, ganz still.

Stille

Aus dieser Stille heraus entsteht neues Leben. Es wird Ostermorgen. Die Energie fängt wieder an zu fliessen. Amen.

„Energy Flow“, „Energiefluss“ heisst das wunderbare Klavierstück des japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto, das wir nun hören. Assel spielt das Stück auch in Gedenken an Sakamoto, der vor wenigen Tagen, am 28. März dieses Jahres, im Alter von 71 Jahren verstorben ist.

Zwischenspiel: „Energy Flow“ von Ryūichi Sakamoto

Kaiseraugst, Ostermorgen, 9. April 2023